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Freier Fall von Hans Jürgen Kugler

Inhalt

 "Er hatte alle Zeit, die ihm noch blieb. Aber auch nichts, was er damit hätte anfangen können. Zeit für Zeit." (S. 118)

Beim Lesen verstehe ich, warum der Autor Schwierigkeiten hatte, mir zu beschreiben, worum es in dem Roman geht (nachzuhören beim Podcast). 

 

Bisher gibt es das Buch nur als (sehr gelungenes!) Printbuch, es ist dreifarbig. ich kann mir trotzdem vorstellen, dass es noch ein Ebook gibt, bei dem Sachbuch zu Kim Stanley Robinson hat der Hirnkost Verlag es im Ebook mit anderen Schriften und Grautönen auch visuell ansprechend und gut lesbar gelöst.

Buchbesprechung

 

Das Buch sieht hübsch aus. Ein Hardcover, unter 200 Seiten, ansprechend gesetzt. 

 

Es gibt drei Erzählstränge:

  • der schwarze Teil von einem Mann im fortgeschrittenen Alter, der mit seinem Leben hadert
  • der blaue Teil von einem Astronauten in einer hoffnungslosen Situation allein im All
  • der rote Teil von einer Ameise, die als einzige ihres Volks einen Brand überlebt hat

Einen großen Reiz machen die Unterschiede und überraschenden Gemeinsamkeiten dieser drei Erzählstränge aus, natürlich ist der Roman auch recht wenig konventionell, wann liest man schon etwas von einer Ameise? Vielleicht bei Cixin Liu, aber die Geschichte von den Ameisen und Dinosauriern hat mit diesem Roman sonst keinerlei gemein. (Siehe "Das Ende der Kreidezeit" und "Der Weltenzerstörer" im Sammelband "Die wandernde Erde".)

 

Der Anfang ankert mich gleich, jemand berichtet über vorgeburtliche Erinnerungen, abgefahren! Dann kommt eine Passage über das Nicht-Stillen. Soweit der schwarze Teil des Buchs, der sich weiter voran durch das Leben des Mannes kämpft.

  

Der SF-Teil in Blau, der auch zum Cover passt, ein Astronaut fällt durchs All, alleine, als einziger Überlebender. Das erinnert mich an die Ameise, allerdings wäre ich im Zweifel lieber die Ameise. Die ist ohne ihr Volk sicher auch schlimm dran, aber müsste sie nicht zumindest mit Atmen und Essen keine Probleme haben?

Bei näherem Nachdenken passt das Cover auch zu den anderen beiden Erzählsträngen, nur dann eben indirekter.

 

Zuletzt kommt der rote Teil über eine Ameise dazu, die eine Katastrophe im Garten überlebt. Ich bin zunächst nicht ganz sicher, was das soll und halte das für eine Anekdote für zwischendurch, später wird mir klar, dass ich der Ameise weiterhin folge, das ganze Buch hindurch.

Da keiner der drei Figuren einen Namen erhält, wäre es vielleicht gut gewesen, den Raumfahrer weiblich sein zu lassen. Ich hielt es anfänglich nämlich für möglich, dass die beiden personalen Erzähler identisch sind und sich nur an unterschiedlichen Punkten in ihrem Leben befinden. Nach einer Weile habe ich aber entschieden, dass sie nicht dieselbe Person sein können.

 

Die Namenlosigkeit ist für die Wirkung des Romans aber wichtig, weil der Abstand etwas beim Lesen mit mir macht.

Sprache

Was ich mit jedem Absatz spüre: die Liebe, Sorgfalt und Leidenschaft. Der Autor beschäftigt sich mit Sprache. Er setzt sich ein Stück mehr mit Philosophie auseinander als mich in meiner jetzigen Lebensphase interessiert, aber nutzt dafür die Sprache eben mit so großer Umsicht, dass es ein Genuss ist. 

 

Da fühle ich mich als Leserin respektiert in meinem Wunsch, etwas Gutes lesen zu wollen und meine Zeit wird wertgeschätzt (der Roman ist nicht sehr dick). Ich bekomme die geballte Fähigkeit Kuglers, mit Sprache umzugehen. Außerdem gelingen ihm viele schöne Details und überraschende Gedanken.

 

Ich zitiere hier mal ein paar Best-Of-Stellen:

 

"Manchmal erschien es ihm, als ob es tatsächlich eine einzige, alles umfassende Antwort auf all seine Fragen gäbe: Nicht geboren zu sein.

Welche Weite, welches Ausmaß an Offenheit! Eine Unendlichkeit voller unerfüllbarer Möglichkeiten - welche Ruhe!"

-> Einerseits ist dieser Gedanke ziemlich schräg. Und nicht ganz neu. Was aber andererseits daran ziemlich cool ist, ist der letzte Gedanke: "welche Ruhe!". Dem kann ich nicht widersprechen und es macht als Idee dann doch etwas in mir.

Ein wenig erinnert es mich aber auch an den Charakter "Krummer Finger" aus dem Film Antonias Welt, eine Assoziation, die mir den Charakter aus dem "schwarzen Teil" des Romans etwas näherbringt. 

 

Im blauen Teil des Romans habe ich ein sehr schönes Bild gefunden, das ich gern mit euch teilen möchte. Nach einer detaillierten Beschreibung der Lebenserhaltung im Raumschiff heißt es:

" ... er befand sich in seiner eigenen winzigen, abgekapselten kleinen Welt, die ihn beschützte und am Leben erhielt. Wie ein kleiner Junge, der sich unter die Bettdecke verkriecht, weil er die Dunkelheit fürchtet, dachte er."

Das sagt uns so einiges über den Protagonisten, nicht wahr?

Phrasen, Phrasen, wo seid ihr?

Die Sprache ist sauber und frisch. Ganz phrasenfrei ist es nicht, wobei auch allmählich bekannt sein dürfte, dass ich bei Prosa die meisten Wendungen und Begriffe, die ich schon anderswo gelesen habe, nicht erneut lesen möchte.

 

Mich stört ja schon so etwas wie "Er hielt unwillkürlich den Atem an", was nun noch keine Phrase ist, lediglich ein häufig gelesener Satz oder auch "kein Training der Welt", eher eine "Phrase light", da dieser Ausdruck ja sonst eher für "kein Geld der Welt" oder "keine Macht der Welt" genutzt wird. 

 

Es sei aber betont, dass der Autor hier weitgehend auf bekannte Sprachkonstruktionen und konventionelle Bilder verzichtet hat, was mein Lesevergnügen erheblich steigert.

Verallgemeinerungen im schwarzen Teil

Der personale Erzähler im schwarzen Teil des Romans äußert auf S. 129 eine Vermutung zu Frauen, die mich gestört hat. Nun sei es in-character, aber sympathisch macht es ihn nicht:

 

"Vielen Frauen ist das die Liebe. Sie können es sich nicht vorstellen zu leben, ohne begehrt zu werden - zum Leben, zum Überleben gebraucht wie eine Droge."

 

Beim Wieder-Lesen stelle ich fest, dass das gar keine Verallgemeinerung ist, da steht ja "viele Frauen" und nicht "die Frauen" oder "alle Frauen". So könnte man das  stehenlassen, auch wenn mich dieser Gedanke ärgert.

Buchaussage

In der A Story geht es um das Leben und vor allem, das Überleben. 

 

Nun wäre es ziemlich gewagt, hier eine B-Story auszumachen oder gar keine Prämisse. Subtext gibt es eine Menge. Ich mag mich nicht festlegen, erst recht nicht nach nur einem Lesen. 

 

Es würde mich auch gar nicht wundern, wenn unterschiedliche Personen verschiedene Romane lesen. Ist das Überleben wichtig oder mehr der Lebenssinn? Denn alle Figuren haben ja Zeit (ein Thema, das den Autor offenbar interessiert, siehe letzter Roman), aber eben mit massiven Einschränkungen.

Mir mehr Zeit zu wünschen liegt mir zurzeit sehr nah (mein Leben ist bis an den Rand gefüllt mir Tätigkeit), nur ist Zeit nicht gleich Zeit.

Die Ameise hat ihr Volk verloren und somit ihren Platz in der Welt.

Der Raumfahrer hat ebenfalls alles verloren und befindet sich quasi im freien Fall, hat aber noch viel Zeit bis zum Aufprall.

Der personale Erzähler aus dem schwarzen Teil hat zwar keine Einschränkungen von außen, aber es fehlt ihm der Sinn, seine Handicaps bezüglich seines Lebens kommen von innen heraus.

 

Geht es also darum, wie die Figuren ihre Einschränkungen überwinden, sich ihnen stellen oder auch an ihnen scheitern?

Die Sache geht ja für alle drei auch sehr unterschiedlich aus, wobei es nicht an mir ist, ein Etikett a la "gutes Ende", "nicht so gutes Ende" oder "nicht wirklich ein Ende" zu vergeben. 

 

Ein Buch, das ich durchaus noch mal lesen wollen würde und vermutlich würde ich beim nächsten Durchgang andere Dinge stärker bemerken.

Wie bin ich zu dem Buch gekommen?

"Das hat man mir einfach so zugeschickt." In diesem Fall stimmt das, ich hätte aber den Autor oder den Verlag auch davon abhalten können.

Mir war aber gesagt worden, ich solle mich zu nichts verpflichtet fühlen. Doch ich habe den Roman sofort gelesen und wie man sieht, sogar besprochen.

Rezeption

Immerhin in der Badischen Zeitung konnte man schon sehr früh etwas darüber lesen. ich bin gespannt auf weitere Rezensionen.

Über die Autor:in

Dem Autor folge ich schon lange und hatte ihn auch schon gemeinsam mit René Moreau im Podcast. Seinen Roman Von Zeit zu Zeit in 2021 hatte ich begeistert rezensiert.

Harte Fakten

Titel Freier Fall 
geschrieben von Hans Jürgen Kugler 
Verlag Hirnkost 
Rezensionsexemplar ich glaube, das ist eines, danke dafür 
Erscheinungsjahr 2022 
Seitenzahl 160 
Original Twitter Tweet https://twitter.com/Rezensionsnerd1/status/1550382964713857024 
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Kommentare: 1
  • #1

    Hans Jürgen Kugler (Sonntag, 24 Juli 2022 16:27)

    Liebe Yvonne,
    ich weiß gar nicht, was ich sagen soll ... Bin naturgemäß mehr als geschmeichelt und gebauchpinselt über dein überschwengliches Lob, das du über meinen Erzählstil und den Umgang mit der Sprache darin gespendet hast. Vielen herzlichen Dank dafür! Vor dem Veröffentlichen des Buches war ich mir unsicher, ob so etwas überhaupt seinen Platz in der literarischen Welt findet - but now: The Eagle is landed :-)
    Dass du dich über den Satz auf Seite 129 über die Frauen geärgert hast, kann ich nachvollziehen. So pauschalisierend sollte er auch gar nicht rübergekommen. Vielleicht hätte ich schreiben sollen: "Es gibt Frauen, denen ist das die Liebe ..." Oder man hätte es auch weglassen können, ist ja irgendwie schon typischer Chauvi-Dumpfsinn ... Männer halt! Mea culpa maxima! Soll nicht wieder vorkommen.
    Viele liebe Grüße,
    Hans Jürgen