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Die erstaunliche Familie Telemachus von Daryl Gregory

Inhalt

Große Begeisterung. Warum? Weil es der Autor schafft, mir jede Figur auf sehr wenigen Seiten schon ans Herz wachsen zu lassen. Etwas, dass ich vor allem in phantastischen Romanen oft sehr vermisse. Bei einer Twitter-Diskussion um genau dieses Thema wurde ich richtigerweise darauf hingewiesen, dass ja Autor:innen phantastischer Romane mit dem Weltenbau recht beschäftigt sind und es daher schwieriger haben als beispielsweise jene, die einen Regio-Krimi konstruieren, der in Wolfenbüttel spielt.

Außerdem ist der Plot ist durchdacht und bietet einen herrlichen Showdown mit vielen tollen Ideen auf!

 

Gregorys Roman spielt im "normalen" USA der neunziger Jahre. Phantastisch sind lediglich die Fähigkeiten der Mitglieder der Familie Telemachus. Da es sich in der Regel um Fähigkeiten handelt, von denen wir Leser:innen schon mal gehört haben - sei es Telepathie, Telekinese oder Astralreisen - muss er auch nicht viel erklären. Die Figur Bobby bildet eine Ausnahme, doch geschickterweise nimmt er sich diese Figur als letztes vor und dann stecke ich längst drin im Geschehen und kann gut verkraften, dass eine der Sichtweisen sich etwas komplizierter gestaltet.

 

Im Roman wechseln sich fünf personale Erzählperspektiven ab:

 

Er beginnt mit Matty, der vierzehn Jahre alt ist, tendenziell in seine (nicht leibliche) Kusine Malice verknallt ist. Matty entdeckt, dass er seinen Körper verlassen kann. Es klappt nicht immer und was er dazu machen muss (sich selbst unzüchtig berühren oder auch kiffen) ist vielleicht nicht ganz so fernsehtauglich, aber es ist immerhin eine bemerkenswerte Fähigkeit.

 

Teddy, Mattys Großvater, kommt als nächstes dran. So wird er eingeführt: "Teddy Telemachus hatte es sich zum Ziel gesetzt, sich mindestens einmal am Tag zu verlieben."

In Rückblenden erfahren wir auch, wie Teddy in den Sechziger Jahren Maureen "Mo", kennengelernt hat, seine spätere Frau und Mutter seiner drei Kinder. Mo ist verstorben als die Kinder zwischen fünf und zehn Jahre alt waren. Ich frage mich recht bald: Hat Teddy überhaupt Psi-Fähigkeiten? Oder ist er eher ein geschickter Betrüger?

 

Irene, Teddys Tochter und Mattys Mutter. Die alleinerziehende Irene ist pleite und muss daher mit Sohn Matty wieder in ihr Elternhaus bei ihrem Vater Teddy einziehen, der bis dato alleine mit Sohn Buddy dort gelebt hat. Ihre Fähigkeit: Man kann sie nicht anlügen. Sie weiß immer, ob jemand die Wahrheit sagt. Charmant ist, dass ihr das eigentlich auf die Nerven geht, vor allem in Zusammenhang mit Männern. Als einer ihrer Brüder einen Computer kauft und haufenweise AOL-CDs ins Haus trudeln (die ersten fünfzig Stunden kostenlos, die Älteren von uns erinnern uns), surft sie in Chaträumen und genießt die Unterhaltungen, weil sie eben nicht weiß, wer lügt, wenn sie die Person nicht vor sich hat. 

 

Frankie, Teddys älterer Sohn, kann Telekinese. Manchmal. Eigentlich hat er Probleme. Er schuldet der örtlichen Mafia Geld. Dabei hat er drei Töchter und eine Frau, um die er sich kümmern muss. Und Ambitionen. Jede Menge davon. Er schöpft Hoffnung, als er von Mattys neu entdeckten Fähigkeiten erfährt.

 

Buddy, der jüngere Sohn von Teddy, wird als letztes in den Fokus gerückt, was zum Spannungsaufbau beiträgt. Vorher frage ich mich als Leserin schon, was mit ihm los ist. Er verlässt kaum das Haus, spricht quasi nicht, ist ständig mit Umbauarbeiten beschäftigt, gräbt aus unerfindlichen Gründen im Garten ein großes Loch. Später erfahren wir, warum. Buddy erinnert sich an Dinge, die in der Zukunft geschehen werden. Alles bleibt zunächst undeutlich und diffus, bringt mich als Leserin aber rasch auf interessante Ideen, die die Spannung erhöhen und das Buch, obwohl es definitiv kein Action-Reißer ist, doch zu einer Art Page-Turner machen.

 

Ein bisschen erinnert mich der Roman an einige von Stephen King - nur ohne den Horror.  Die Telemachus-Familienmitglieder sind Menschen wie du und ich (und genau das erinnert an King), die in außergewöhnliche Situationen geraten, hier oft (aber nicht immer), weil sie ihre Kräfte entdecken. Ist natürlich viel einfacher, hineinzukommen als Leserin, als in eine komplett fremde Welt mit womöglich auch fremden Wesen. Sozusagen "Phantastik light". 

Meiner Meinung nach gibt es sogar eine Anspielung auf Stephen Kings dunklen Turm. Auf S. 145 von 400 auf meinem Ebook heißt es in einem Dialog: 

 

"Sie haben ein Buch mit bereits generierten Codenamen?", fragte Teddy.

"Wenn man das nicht hat, suchen sich alle solche Namen wie 'Donnerschlag' aus."

 

Das wäre dann wohl eine Anspielung, die nur für Hardcore-Stephen-Kings-Dunkler-Turm-Fans funktioniert, von denen es aber immer noch genügend gibt, und diese dürften auch zur Zielgruppe des Romans gehören.

 

Der Autor hält sich nicht viel mit Details auf, aber seine Figuren bewegen sich auch nicht im luftleeren Raum. Hin und wieder streut er ein passendes Detail ein, über das Aussehen einer Figur oder einer Umgebung, die völlig ausreicht, um mein Kopfkino aufrecht zu erhalten. Genauso mag ich es. 

 

Hier ein paar Beispiele für Details, die ich sehr gelungen fand:

  • "Sie wollten bloß, dass er auf dem hustensaftrosafarbenen Teppich in ihrem Zimmer saß, während sie seinen Schoß mit kleinen Stofftieren beluden."
  • "Er hatte sein blassblaues Tommy-Bahama-Hemd so weit aufgeknöpft, dass die Goldkette zu sehen war, die sich in seinem grauen Brusthaar verheddert hatte."

 

Eine Beschreibung, die die Identifikation erleichtert:

"Er [Frankie] spulte die Werbung vor, verpasste das Wiedereinsetzen der Sendung, spulte zurück und dann noch einige Male hin und her." (Wer von uns Älteren kennt das nicht...)

 

Die Dialoge bieten ebenfalls einiges an Authentizität, Humor und Charakterzeichnung:

 

"Kaffee für meinen Freund hier", sagte Teddy.

"Nein, danke", sagte der. "Wasser mit Zitrone, bitte."

"Ich vergaß, dass er Mormone ist", sagte Teddy. "Könnten Sie bitte darauf achten, dass das Wasser entkoffeiniert ist?"

 

Die Metaphern sind auch nicht gerade frei von Humor:

  • "Buddy sagte nichts. Natürlich nicht. Buddy hatte beschlossen, Marcel Marceau zu sein."
  • "...deren Kabel verwirrt waren wie die Schwänze eines Rattenkönigs..."
  • (Während eines Gesprächs mit dem pubertierenden Neffen:)"Als ein Mann, der auf einer Insel voller Töchter festsaß, war er auf diesen Augenblick nicht wirklich vorbereitet."
  • "Oder machte es ihm einfach nur Spaß, mit den Fingern durch die Münzen zu pflügen, wie Smaug oder Dagobert Duck?"

 

Harte Fakten

Titel Die erstaunliche Familie Telemachus 
Autor Daryl Gregory 
Erscheinungsjahr 2018 
Seitenzahl 545 

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