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Neanderthal von Jens Lubbadeh

Inhalt

Es hätte so gut werden können. Ermittler Nix und Gerichtsmediziner Kramer an einem Tatort - die Leiche weist Auffälligkeiten auf. War er etwa behindert? In der Welt von Nix und Kramer (Deutschland in 2053) gibt es aufgrund vorgeburtlicher Korrekturen kaum noch Behinderte. Wer ist der Tote? Und warum hat er auf seinem "Smart" (Armband, das wohl die Weiterentwicklung des heutigen Smartphones ist) kaum Daten? Lediglich Koordinaten des Neandertals bei Düsseldorf finden sich dort. Und dort finden sie dann plötzlich Knochen mehrerer Tote, obwohl das Tal doch bereits in der Vergangenheit gründlich untersucht worden war und dort nichts übersehen worden sein könnte.

 

Nix, der Ermittler im Mordfall, macht sich sofort sympathisch, weil er nicht in diese Welt zu passen scheint. Alles strebt nach Gesundheit: Viel Bewegung, gutes Essen. Aber Nix mag eigentlich ganz gern Fleisch, trinkt und raucht auch ab und zu. Alles Dinge, die in seiner Realität nicht gern gesehen sind. So beobachten wir ihn dabei, wie er in der Kantine trockenen Falafel isst oder seinen Tracker bescheißt, weil er die 15.000 Schritte am Tag nicht schafft. Obwohl ich selber ein Fan gesunder Ernährung und viel Bewegung bin, kann ich mich sofort identifizieren. In einer Welt zu leben, in der all das vom Staat vorgeschrieben ist, erscheint mir gruselig und alles andere als erstrebenswert.

 

Einiges wird mir hier zu früh aufgelöst. Zunächst gibt es Andeutungen, es habe in Nix' Leben einen behinderten Jungen namens Tim gegeben, der offenbar am Down-Syndrom gelitten hat und mittlerweile verstorben ist. Außerdem wird angedeutet, dass sowohl seine Frau als auch sein Sohn krank sind. Das hätte ruhig ein wenig länger im Dunkeln bleiben können. Die viel zu frühe Auflösung all dieser Rätsel nach wenigen Seiten vergibt meiner Meinung nach viel Spannung.

 

Nix' hat einige Sorgen: Kramer ist untergewichtig, vermutlich depressiv und als sein Vorgesetzter müsste Nix das eigentlich melden. Die Depression von Nix' Frau und die drohende Krankheit seines Sohnes sind ebenfalls spannend. Dann bahnt sich noch ein Flirt mit einer schwangeren Kollegin an. 

 

Doch Nix steht bald gar nicht mehr im Mittelpunkt, eine neue Figur wird eingeführt:  Max Stiller, der Neandertaler-Experte. Also gut, es gibt also mehrere Hauptfiguren. Ich lasse mich auch auf Max gern ein. 

Dass Max stumm ist, ist vor allem in der Welt, in der er lebt, sehr spannend. Max empfindet sich auch nicht als behindert. Er ist beruflich sehr erfolgreich, gilt als weltweit führende Koryphäe für Neandertaler. 

 

Dann wird meine Geduld schon etwas strapaziert, als mir die Antagonistin Eva Mercure nahegebracht wird, eine Mittfünfzigerin, die genau in diese Welt passt, da sie hübsch und total auf ihre Gesundheit fixiert ist. 

 

Wenig später schaffe ich es auch noch, zu akzeptieren, dass offenbar nun statt Nix oder Stiller Sarah Weiß die Hauptfigur sein soll, Stillers Kollegin, die unter ihrer Größe und einigen anderen Andersartigkeiten leidet und in ihrer Ehe nicht besonders zufrieden ist. Auch mit Sarah kann ich mich identifizieren.

 

Die ersten hundert Seiten klebe ich am Roman, auch wenn mich die kursiv gedrückten Kapitel zwischendurch, dir mir offenbar das Leben der Neandertaler in der Vorzeit etwas näherbringen sollen, überhaupt nicht interessieren. Es folgen noch mehrere unerwartete Perspektivwechsel, auf die ich mich nur schwer einlassen kann. Die Spannung nimmt nach einem Drittel stark ab, steigt dann aber kurz wieder an.

 

Nach zwei Dritteln bin ich dann endgültig genervt. Warum kann der Autor nicht bei einer Prämisse bleiben? Neandertalerknochen in der heutigen Zeit zu finden, das ist doch interessant genug. Wozu braucht er Nebenschauplätze über geklonte Mammuts oder eine Klinik, in der trauernde Eltern ihre verstorbenen Kinder klonen lassen können? Darüber hätte er doch besser weitere Romane oder Erzählungen verfasst. 

 

Die Antagonistin Eva-Maria Mercure ist völlig unglaubwürdig, der ständige Sex nervt und vor allem der lesbische Sex ist für mich nicht glaubwürdig. Würde eine Frau einer anderen wirklich einen Orgasmus vorspielen? Es gibt recht viele Sexszenen (drei oder vier), die meisten zwischen zwei Frauen. Der Autor hat eine Vorliebe für Worte wie Vagina, Vulva und Klitoris. Da gefallen mir ja sogar die Sexszenen von Ken Follet mit den hölzernen Dialogen besser.

 

Im ersten Kapitel wird recht viel erklärt, das habe ich mir noch gefallen lassen. Einige offene Fragen (was stimmt mit Nix' Sohn nicht) werden viel zu früh aufgeklärt, was die Spannung sehr abfallen lässt. Dafür scheint der Autor andere Fragen (zwischendurch?) total vergessen zu haben. Über weitere Strecken werden Nix und Kramer gar nicht mehr erwähnt, auch die Ministerin für Gesundheit und Glück, die anfangs noch eine wichtige Nebenrolle spielt, scheint nicht mehr von Belang zu sein. Die neue Krankheit, die "große Depression", die ganz interessant klingt, wird über viele Kapitel hinweg gar nicht mehr erwähnt. Auf die große Depression und auch auf die (dann ehemalige) Ministerin kommt der Roman immerhin ganz am Ende wieder zurück, Nix' Schicksal hingegen wird nicht mehr erwähnt, irgendwann vermutet mal jemand, dass er wohl getötet worden sei. Reichlich unbefriedigend für eine Figur, die ich anfangs noch für den Hauptprotagonisten hielt. 

 

Als ich mich endlich damit abgefunden habe, dass offenbar Sarah als einzige Bezugsperson bleibt, verliere ich auch diese. Nun weiß ich nicht mehr so richtig, warum ich weiterlesen soll, es sind aber noch hundert Seiten übrig. Weiß der Autor wirklich was er tut?

 

Dann kommt plötzlich ein Zeitsprung von locker fünfzehn Jahren und eine Figur, die vorher nur eine Nebenrolle hatte, bekommt plötzlich viel Aufmerksamkeit. Seitenweise muss ich nun lesen, wie sie etwas über sich herausfindet, dass ich längst weiß und das daher kaum spannend für mich ist. 

 

Einige Fragen werden nie geklärt - oder habe ich sie überlesen? Warum kann Sarah gebärden? Warum hat sie das gelernt, wo es doch kaum noch Gehörlose gibt?

 

Der Weltenbau am Anfang war toll. Auch die Figuren haben überzeugt. Das hätte einer der besten Romane werden können, die ich bisher 2021 gelesen habe - aber aus meiner Sicht hat er es komplett versemmelt. Wäre ich nicht schon so weit fortgeschritten gewesen, ich hätte den Roman abgebrochen.

 

Ein großes Plus muss ich dem Roman geben wegen der äußerst respektvollen Weise, wie Gehörlose dargestellt wird und der wundervoll kreativen und lesenswerten Art, wie hier Gebärden dargestellt und beschrieben werden. Deswegen, wegen der guten Grundidee und den ersten hundert Seiten könnte ich noch drei von fünf Punkten geben, aber auch nur sehr, sehr knapp. Mein Vertrauen in diesen Autor habe ich jedenfalls verloren und werde vorerst nichts mehr von ihm lesen.

Harte Fakten

Titel Neanderthal 
Autor*in Jens Lubbadeh 
Erscheinungsjahr 2017 
Seitenzahl 529 

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