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Das Licht der letzten Tage von Emily St. John Mandel

Inhalt

Nach ein bis zwei Stunden hätte ich fast abgebrochen, weil ich so unzufrieden war. Mehr dazu weiter unten. Dann aber entwickelte sich der Roman zum besten, was ich in letzter Zeit gelesen habe. Intern führe ich (allerdings erst seit ein paar Wochen) eine Tabelle, auf der ich gelesenes und gehörtes bewerte, und bisher hatte nichts mehr als 80 Punkte. Diesem Roman habe ich 95 gegeben. 

 

Der Roman hat alles: tiefe Figuren, einen guten Plot, ein Mega-Setting, er schließt alle Kreise und bietet so viel Inhalt und Handlung, dass andere daraus vermutlich eher fünf Romane gemacht hätten - die alle immer noch genügend Action hätten bieten können. Allerdings ist er auch sehr verschachtelt und es hat etwas gedauert, bis ich das zu schätzen wusste.

 

Ganz am Anfang stirbt ein Mann. Auf der Bühne. Der Schauspieler Arthur ist in den frühen Fünfzigern, dreimal geschieden, ein (in Israel lebender) achtjähriger Sohn aus zweiter Ehe. Berühmt aus Theater, Fernsehen und Film. Hier gibt es König Lear, aber er fühlt sich nicht gut, versemmelt seinen Text, bricht zusammen. 

Aus dem Publikum springt jemand auf die Bühne, versucht Wiederbelebung. Jeevan. Zunächst bleiben wir auch bei Jeevan und folgen ihm. Allerhand wird angedeutet über Jeevan, seine zerbrechliche Beziehung, auf vieles in seiner Vergangenheit ist er nicht stolz. Nun aber möchte er Sanitäter werden und endlich etwas vernünftiges mit seinem Leben anstellen. Während dieser Szene kommt es zu einer kurzen Begegnung mit der Kinderdarstellerin Kirsten. Als Jeevan das Theater verlässt, stellt er fest, dass seine Lebensgefährtin ohne ihn nach Hause gegangen ist. Er hat eine Nachricht. Sie habe Kopfschmerzen gehabt. Er sollte bitte Milch mitbringen. 

Jeevan erhält einen Anruf von seinem Freund Hua, dem Arzt, seinem besten Freund. Hua ruft aus dem Krankenhaus an. Die Georgische Grippe ist in Kanada angekommen. Die Fälle häufen sich. Die ersten sind schon tot. Sie ist hochansteckend. Hua scheint bereits infiziert zu sein. Er rät Jeevan, die Stadt zu verlassen oder sich in seiner Wohnung zu verschanzen, mit Vorräten.

Jeevan wählt Möglichkeit 2, aber nicht bei sich zu Hause, sondern bei seinem Bruder Frank. Geschildert wird ein Großeinkauf (inklusive Klopapier), bei dem jede Corona-Panik vom März 2020 harmlos wirkt. Die Stadt zu verlassen kommt für Jeevan nicht in Frage, denn sein Bruder Frank sitzt im Rollstuhl und sie müssten auf die Schnelle einen recht speziellen Van mieten, in dem er mitfahren kann. So verbringen die Brüder einige Wochen mit ausreichend Vorräten zu zweit in Franks Wohnung und sitzen die Sache aus.

 

Zu diesem Zeitpunkt bin ich mit Jeevan dick befreundet und neugierig darauf, wie es mit Frank dem Rollstuhlfahrer weitergeht. Daher verkrafte ich es nicht sehr gut, dass der Plot der beiden nun (für mehrere Stunden!) pausiert und es mir Kirsten (der Kinderdarstellerin aus der ersten Szene) weitergeht, zwanzig Jahre später. Sie ist inzwischen mit einer Theatergruppe und Symphonie unterwegs. Sie sind auf der Suche nach zwei Mitgliedern, einem Pärchen, die Frau davon hochschwanger. Diese waren offenbar zuletzt in einer Stadt gewesen, die inzwischen von einem gruseligen "Propheten" beherrscht wird, der sich gern minderjahrige Ehefrauen nimmt. 

Kaum habe ich etwas Interesse für das Geschehen um Kirsten entwickelt, wechselt der Plot erneut und schwenkt auf Miranda, Arthurs erste Frau, fünfzehn Jahre vor der Krise durch die Georgische Grippe.

 

Ich wüsste nicht, warum mich etwas interessieren sollte, das fünfzehn Jahre vor der Apokalypse passiert ist, außerdem ist Arthur ja bereits in der ersten Szene gestorben. Der erneute Wechsel bringt mich fast zum Abbruch. Doch ich will ja wissen, ob Jeevans Geschichte noch einmal weitererzählt wird und auch Kirsten interessiert mich mittlerweile ein wenig. Mit Miranda werde ich aber sehr schnell warm. Zumal auch Jeevan in einer kurzen Szene eine Rolle spielt und klar wird, warum er mit gewissen Dingen aus seiner Vergangenheit so unzufrieden ist. Miranda bzw. ihre Comics "Das Licht der letzten Tage" spielen später noch eine wichtige, verbindende Rolle, weshalb der Schwenk zu Miranda im Rahmen dieses Romans rückblickend absolut Sinn ergibt. Zumal wir Miranda kurz vor (und nach) der Katastrophe wieder begegnen werden und sie einige wichtige Aspekte erfüllt, die ich ungern missen würde.

 

In Mirandas Szenen lernen wir auch Clarke kennen, Arthurs besten Freund. Und Clarke ist es dann, der - sogar mehr als zu Beginn Jeevan - meine Lieblingsfigur in diesem Roman wird, und außerdem das spannendste, beste Apokalypsen-Setting bietet, das ich je gelesen habe. Clarke sitzt im Flugzeug, in der Holzklasse, Elisabeth (Arthurs zweite Frau) sitzt mit ihrem und Arthurs gemeinsamen Sohn in der ersten Klasse. Doch das Flugzeug erreicht seinen Zielort nicht, es wird aufgrund der Pandemie umgeleitet und landet in einem eher kleinen Flughafen im Nordosten der USA. In dem Flughafen ist tatsächlich niemand krank. Es kommt auch niemand. 

 

Natürlich wird hier viel narrativ zusammengefasst, a la "an Tag 1", "an Tag 12" usw., aber das hat einen sehr guten Effekt und ist spannend zu lesen, weil in rascher Zeit einiges passiert und die Stimmung gut passt. Das Setting Flughafen nach einer Apokalypse hat auch seinen Reiz. Wir sind es gewohnt, mehrere Stunden, vielleicht auch mal eine Nacht lang auf einem Flughafen zu stranden. Einigen gehen ihre Medikamente aus. Anderen die saubere Kleidung. Wir sind aber meiner Erfahrung nach noch nie so lange dort gestrandet, dass allen Restaurants und Automaten die Nahrung ausgeht und man anfängt, Rehe zu erlegen, und im Vorhof eines Hangars zu braten. Mannomann. Was, wenn ein Pilot entschließt, mit einer vollgetankten Maschine zur Westküste der USA zu fliegen? Mitfliegen oder lieber vor Ort bleiben, wo offenbar niemand krank ist und es vorerst sicher zu sein scheint? Ist es woanders schlimmer? Die Nachrichten laufen nicht mehr, der Strom ist auch längst weg, Handys haben schon in den ersten Tagen den Geist aufgegeben. Alleine dieses Setting ist so spannend, das hätte meiner Meinung nach einen eigenen Roman haben können. 

 

Dass der Plot nicht chronologisch ist, hat mich lange gestört und fast zum Abbrechen des Hörbuchs geführt. Bei anderen Bewertungen lese ich, dass so einige andere an der Stelle auch tatsächlich abgebrochen haben. Für mich kann ich sagen, das Durchhalten hat sich gelohnt. Ich sehe auch ein, dass der Aufbau Sinn ergibt, allerdings erst im Nachhinein. Zwischen Stunde 1 und Stunde 4 des Hörbuchs habe ich nur darauf gewartet, wann es endlich mit Jeevan und seinem Bruder Frank weitergeht, wie sich die Georgische Grippe ausbreitet und wie dann allmählich das Internet, Telefonie und Elektrizität wegbricht.

 

Der Aufbau des Romans hat mich in der ersten Hälfe des Hörens verwirrt, und das, obwohl ich sogar vorher eine recht umfangreiche Rezension gelesen hatte. Fairerweise muss ich aber beim Wiederlesen der Rezension im Science Fiction Jahr 2016 feststellen, dass dort durchaus auf den ungewöhnlichen Aufbau hingewiesen wurde. Auch der Fokus auf dem bereits vor dem Anfang der Epidemie verstorbenen Schauspielers wurde dort erwähnt. Der Rezensent (einer beiden Lieblings-Rezensent:innen, nämlich Christian Endres, der andere wäre Franz Rottensteiner) schreibt hier: 

 

"Das macht Das Licht der letzten Tage zu einem andersartigen Leuchtfeuer im Nebel des postapokalyptischen Einheitsbreis, selbst wenn das Licht vor lauter literarischem Anspruch und lauter Zaghaftigkeit hier und da mal etwas flackert."

 

Das hier sollte man womöglich eher lesen, wenn man sich bei all den austauschbaren Dystopien endlich langweilt und sich nach etwas unkonventionellerem sehnt. Während die erste Hälfte des Romans daher für mich etwas zäh ist, werden danach einige der Versprechen eingelöst, die anfänglich gemacht wurden. Die Verknüpfung zwischen den Handlungssträngen wird fester, die Figuren gewinnen an Tiefe. Endlich erfahre ich, wie es mit Jeevan (und auch allen anderen) weitergegangen ist. Allerdings bedaure ich, dass es keine Szenen gibt, wie Jeevan mit seinem Bruder Frank und dem Rollstuhl durch die Stadt kämpft. Alles andere ist aber gut: Eine bereits gut eingeführte Figur sitzt im Ausland fest, bekommt die Grippe und stirbt. 

 

Ja, es gibt nicht wirklich einen klaren roten Faden. Eher mehrere, die sich aber gut zusammenflechten. Ich habe eine Weile gebraucht, kann mich aber dann darauf einlassen und höre die zweite Hälfte dann wieder ebenso begeistert wie die erste Stunde. Die Talsohle dazwischen war unangenehm lang, aber das Durchhalten war es wert. Die Story an sich ist offenbar von der ersten Saars-Epide inspiriert und die Todesrate erinnert eher an Stephen Kings "The Stand". 

 

Die kanadische Autorin Emily St. John Mandel hat schon drei Bücher davor und eines danach geschrieben. Da werde ich demnächst mal hineinschauen, auch wenn es offenbar noch keine deutsche Übersetzung gibt.

Diversität

Ab sofort nehme ich mir vor, in jedem rezensierten Werk mal genauer auf Diversität zu achten: POC, Queere Figuren, behinderte Figuren, Diskriminierung aufgrund Religionen, Alter, Übergewicht, sozialer Herkunft etc..

 

POC

Ich habe nichts gelesen, das auf People of Color hinwies, will aber nicht ausschließen, dass ich überlesen haben könnte, dass eine der Figuren nicht weiß ist.

 

Queerness

Clarke, dem der Roman vor allem in der zweiten Hälfte zeitweise aus der personalen Perspektive folgt, hat einen männlichen Lebensgefährten. Dies wird erst thematisiert, als wir Clarke schon eine Weile kennen, in einer recht guten Szene, in der die Epidemie schon in vollem Gange ist. Die Figur wird gefragt: "Wissen Sie, wo Ihre Frau jetzt ist?" und die Figur beschließt, so zu tun, als wäre er gefragt worden, wo sein Lebensgefährte gerade sei und verneint. 

Erstens war das eine geschickte Art, auf die Nicht-Heterosexualität der Figur hinzuweisen und zweitens zeigt das wieder einmal, dass die Default-Annahme beim Gegenüber stets die Heterosexualität ist und wie man als Nicht-Hete damit umgehen muss.

 

Behinderungen

Jeevans Bruder Frank sitzt im Rollstuhl. Er war im Kriegsgebiet als Reporter tätig und wurde angeschossen. Das ist lesenswert, allerdings hat meiner Meinung nach die Autorin das Potenzial der Figur nicht ausgeschöpft, was mich (aber eher aus Gründen meiner Leserinnen-Neugier, nicht aus Diversitätsgründen) etwas enttäuscht hat. Das Ende der Figur ist ärgerlich, auch wenn ich selbstverständlich einsehe, dass für einen Rollstuhlfahrer das Chaos nach einer solchen Apokalypse deutlich schwieriger zu bewältigen ist. Jedoch: Stephen King hat mit der Figur Susannah im Dunklen-Turm-Zyklus unter noch deutlich härteren Umständen eine behinderte Figur (ihr fehlen die Beine) geschaffen, die sich entweder im Rollstuhl fortbewegen oder in einer speziellen Trage getragen werden muss. Ganz abgesehen davon, dass Susannah außerdem eine Frau UND auch Schwarz ist (jemand zeige mir eine Figur, die noch intersektionaler ist...). Ich hätte gern mehr von Frank gelesen. Trotzdem schätze ich diese Figur sehr, auch wenn ihr Auftritt kurz war und meine Erwartungshaltung hier mächtig enttäuscht wurde.

Später ist mir noch eingefallen, dass es auch in "Fear the Walking Dead" eine Figur im Rollstuhl gibt. Da sind aber die Highways nicht verstopft, so dass er ganz gut vorankommt.

Harte Fakten

Titel Das Licht der letzten Tage (Original: "Station Eleven") 
Autor*in Emily St. John Mandel 
Erscheinungsjahr 2017 
Seitenzahl 410 
Länge Hörbuch 11 Std. 33 
Sprecher*in Stephanie Kellner 
Original-Tweet https://twitter.com/Rezensionsnerd1/status/1397104186563698688

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