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Hologrammatica von Tom Hillenbrand

Inhalt

Dieser Roman wurde mir im Scifinet von Amtranik empfohlen. Danke sehr!

 

Normalerweise habe ich ja bei Romanen oft den Eindruck: Das hätte man aber rascher erzählen können. Oder mehr draus machen. Oder mehr Action. Mehr Ideen,

 

Nicht so hier: Der Autor hat so irre viele rasante Ideen und Wendungen, dass ich einfach nur Spaß habe - sowohl mein Herz, als auch mein Hirn.

 

Der Roman spielt April 2088, England (und, da reisen so einfach ist, auch mal anderswo). Der Ich-Erzähler Galahad Singh erhält den Auftrag, nach der Programmiererin Perrotte zu suchen. Zunächst klingt das nach "business as usual", aber sehr bald findet er dank dieses Suchauftrags entscheidende Dinge über seine Welt - und irgendwie auch über sich selbst - heraus. 

 

In dieser Welt wird das meiste holographiert. Hierbei gibt es mehrere Level. Man kann via Hologramm schreiben. Eine weiße Hose anziehen und darauf einen teuren Anzug holografieren. Denn "Holopolish ist billig wie Dreck, selbst ein Bettler kann es sich leisten". Das gilt aber nur für jene Gebiete, in denen das Holonet verfügbar ist. Im sogenannten "naked Space" steht man dann ggf. wieder mit der weißen Hose da. Außerdem gibt es Brillen, mit denen man (einige oder alle) Holo-Level herausfiltern kann. 

 

Außerdem kann man sein Gehirn herausbauen lassen und als "Quant" leben. Das Gehirn ist hier digital und kann in den Stammkörper eingesetzt werden - aber auch in Gefäße. Das sind in der Regel künstlich hergestellte Klone. Das Gefäß muss nicht zwingend mit dem eigenen Körper übereinstimmen, nicht mal mit dem eigenen Geschlecht. Allerdings kann man höchstens einundzwanzig Tage bleiben, dann muss man in den Stammkörper zurück. Sonst droht ein Braincrash. Warum das so ist, wird zwar untersucht, aber es gibt keine Lösung. So ist leider die Unsterblichkeit noch in weiter Ferne. Insofern bildet der Roman einen netten Gegensatz zu "Altered Carbon - das Unsterblichkeistprojekt", in dem es ganz ähnliche Verfahren gibt, aber kein Problem des Braincrash. 

 

Erzählt wird größtenteils aus der Sicht des Quästors Galahad Singh. Dieser sucht beruflich nach vermissten Personen. Heutzutage würde man ihn als Privatdetektiv bezeichnen. Der Unterschied ist: Er sucht NUR nach vermissten Personen. Er übernimmt keine anderen Aufgaben, die man typischerweise als Detektiv noch annehmen würde.

 

In wenigen Zwischenkapiteln und zum Schluss in zunehmendem Maße kommt auch die gesuchte Frau Perrotte in der personalen Perspektive zu Wort. 

 

Es gibt keinen Infodump. Das Setting sorgt dafür, dass wir uns in der Welt zurechtfinden. Dies gelingt problemlos. Das ist sehr gut gemachte SF. Ich erfahre nach und nach immer mehr von dieser Welt, kann mich aber jederzeit sicher darin bewegen.  Es gibt einige gute Gedanken zum Klimawandel und dazu, wie sich die Welt daraufhin verändert hat (oder verändern wird). 

 

Der Roman ist voller toller Details, gelungenen Beschreibungen und Sätzen, die ich einfach markieren musste, um sie nach der Lektüre erneut zu genießen. Gern gebe ich ein paar Kostproben:

 

Es ist von einem Jedermannanzug die Rede, eine Art Tarnanzug, der angeblich von einem Pharmazeuten namens "Kindred P. Dick" erfunden wurde.

 

(als der Ich-Erzähler in der Abteilung für Toilettenartikel angegriffen wird:) "Falls es irgendeinen ausgefallenen Novaja-Sistema-Trick gibt, der einem hilft, Klingenwaffen mithilfe von Tampons abzuwehren, ist er mir unbekannt."

 

Als er für seinen Exfreund Kaffee bestellt, fallen ihm sofort alle nerdigen Details wieder ein, wie dieser seinen Kaffee mag. "Dabei ist es sechs Jahre her, dass wir ein Paar waren. Manche Dinge vergisst man nie."

 

Offenbar kommt die Feuerwehr nur, wenn man ein Abo hat.

 

Der Autor hat zwei oder dreimal im Verlaufe des Romans den Konjunktiv von kennen, "kennte" genutzt. Mein alter Französischlehrer wäre begeistert. Ich bin es auch.

 

"Während der antwortet, hält Hardhouse Blickkontakt mit der Tischplatte"

  

Prämisse /A Story & B Story

Die A Story ist für mich die Suche nach den Vermissten, allen voran nach Perrotte. Damit zusammenhängend auch alle Puzzleteile, die im Laufe des Romans vom Ich-Erzähler eingesammelt werden. Die A Story wird hervorragend weitergetrieben und ausgereizt. 

Die B Story (hintergründige Story) für den Ich-Erzähler war meiner Meinung nach seine Trauer-Bewältigung bezüglich seines verschwundenen Bruders. Dazu gehört für mich auch der Umgang mit seinen Depressionen. Ein bisschen dazu kam auch die Liebesgeschichte und die damit verbundenen Unsicherheiten bezüglich Francescos Geschlecht und seiner Behälter.

Die A Story stand hier aber sehr im Vordergrund. Die B Story hätte aus meiner Sicht noch mehr Platz einnehmen können - da wäre noch was gegangen. Trotzdem fand ich diese Dinge sehr gelungen und gut miteinander verwoben. 

 

Lob und Kritik

 Die Erzählart ist nicht völlig frei von Sprachklischees, und einige Ausdrücke klingen sehr nach unserer jetzigen Zeit, wie "ran an die Buletten".  Allerdings werden auch Ausdrücke eingeflochten, die heute noch nicht üblich sind wie "petahip" oder "gar nicht deren Turf" gar russisch anmutende Sprüche wie "Sa sdorowje".

Es gibt einige popkulturelle Anspielungen: Auf Al Capone, und täglich grüßt das Murmeltier und Harry Belafonte. 

Eine Diskussion bei Twitter zeigt, dass die Meinungen, ob so etwas 2088 noch aktuell sein könnte, sehr geteilt sind.

 

Fazit 

Wirklich, wirklich gute deutschsprachige Science Fiction. Auch besser als fast alles, was ich in letzter Zeit so aus dem anglo-amerikanischen Raum gelesen habe.

Der Roman hat einfach alles!

Hat zu Recht 2019 den DSFP geholt. 

Diversität

Der Protagonist ist schwul und zu etwa 40 Prozent indischer Herkunft. Natürlich kommen dadurch auch andere homosexuelle Menschen vor, zum Beispiel sein Ex.

 

Bemerkenswerter fand ich aber einige sehr originelle und konkrete Ideen: So lernt der Ich-Erzähler Singh ziemlich zu Beginn eine Frau namens Franscesca kennen, die sich sexuell für ihn interessiert. Sie merkt, dass er schwul ist. Daraufhin führt sie ihn zu ihren Gefäßen, in die sie ihr "Cogito" transferieren kann und lässt ihn sich eines aussuchen. Dann verbringt sie eine Nacht mit ihm - in einem männlichen Gefäß.

Singh ist danach verwirrt, weil er ein wenig verliebt ist. Ist er nun in eine Frau verliebt? Oder in ein Gefäß? Seine Gedanken und seine Verwirrung sind herrlich und auch ich frage mich: Was wäre, wenn...?

Harte Fakten

Titel Hologrammatica: Thriller (aus der Welt der Hologrammatica 1) 
geschrieben von Tom Hillenbrand 
Erscheinungsjahr 2018 
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
Seitenzahl 554 
Original Twitter Tweet https://twitter.com/Rezensionsnerd1/status/1434062382104555520 

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