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Ohne Strom - Wo sind deine Grenzen? von Markus Mattzick

Inhalt

Da es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, muss ich diesen Beitrag als Werbung kennzeichnen. Natürlich ist es meine ganz normale Meinung, die ich schildere.

 

Ich habe zwar einige Kritikpunkte (siehe unten), doch insgesamt ist es ein sehr spannender, gut recherchierter Roman mit bemerkenswerten Details. Ich habe ihn in zweieinhalb Tagen durchgelesen und kaum weglegen können. Einen Autor, der es schafft, mich dermaßen mit der Nase im Buch zu halten, muss ich definitiv beobachten.

 

Von jetzt auf gleich ist der Strom weg. Ja, alles. Auch aus Batterien, Akkus und Notstromaggregaten.

Wir dürfen aus sechs personalen Perspektiven beobachten, was das mit den Menschen und der Zivilisation macht. Zuerst empfand ich sechs Personen als viel, aber ich hatte die schnell auseinander sortiert, außerdem kennen diese sich alle.

 

Malte - ist Familienvater und gerade im Supermarkt, als es passiert.

 

Jutta - ist seine Schwester und Pilotin im Landeanflug, als es passiert.

 

Simone - ist Maltes Ehefrau und in Hamburg auf Geschäftsreise, weshalb sie sich auf den langen Weg nach Hause machen muss. Ihre Perspektive ist besonders interessant, da sie auf der Reise die gefährlichsten Dinge erlebt und die schwierigsten Entscheidungen treffen muss.

 

Florian - ist Juttas Ehemann und Krankenpfleger. Es ist zunächst sehr interessant zu sehen, wie das Krankenhauspersonal mit der Krise umgeht und dann lässt uns der Autor sehr nah und überzeugend an Florians Weg zur böse Seite der Macht teilhaben.

 

Lukas - ist Maltes und Simones Sohn und wünscht sich sehr, endlich von Malte als vollwertiger Mann gesehen zu werden. Dieser ist aber noch voll im Beschützerinstinkt-Modus.

 

Laura - ist Lukas' Schwester und die Tochter von Malte und Simone. Sie leidet neben allem anderen auch unter dem Entzug von sozialen Medien.

 

Zugegeben, es dauert etwas, bis ich mit allen Figuren warm bin. Dann in ich aber eindeutig ausreichend emotional involviert, dass mir im letzten Teil des Romans sogar mal die Tränen kommen.

 

Fokus der Figuren (außer Simone, die den Roman über unterwegs dorthin ist) liegt in Umbach. Hier leben 2000 Menschen, die gemeinsam zu überleben versuchen. Die Besonderheit zu anderen postapokalyptischen Szenarien ist, dass hier eben nicht 90 ist 98 % der Menschheit gestorben ist. Ressourcen sind plötzlich knapp und die Supermärkte sind aber nach drei Tagen schon leer. Nach Ablauf der Romanhandlung sind erst 3 bis 4 % der Bevölkerung gestorben.

 

Ganz besonders gut fand ich übrigens, dass auch gute Menschen hier oft schwierige Entscheidungen treffen müssen. Besonders hervorheben möchte ich Simones Erlebnis auf ihrer Reise, bei dem sie eingesperrte Frauen trifft. Es ist klar, was diesen bevorsteht - neben sexueller Gewalt wohl auch der Tod und auch schlimmeres danach (Kannibalismus wird angedeutet). Sie hat aber keine Möglichkeit, die Frauen zu befreien, ohne sich selbst in Lebensgefahr zu bringen und entscheidet sich daher dagegen. Das kommt oft in Serien und Romanen zu kurz, dabei fand ich das sehr realistisch und eindringlich.

Sprache und Art des Erzählens

Die Sprache ist eher nichts besonderes, die Inquits (siehe unten) zu zahlreich. Es ist aber klar erzählt und verständlich und es lässt sich gut folgen und auch rasch lesen, wenn man wissen möchte, wie es weitergeht. Ich fand es angenehm.

Ansonsten lebt es eher vom Inhalt, nicht von der Sprache.

 

Ach ja - und ALLES ist szenisch, es gibt keinen Infodump. Es ist ziemlich bemerkenswert. Beeindruckend finde ich auch die lange Liste der Romane, die der Autor vorher gelesen hat.

Ideen zu Details

  • Ich fand es witzig, dass ein Pferd "kleine Tante" heißt.
  • Schön waren auch viele Nebenplots und Detailideen, beispielsweise, dass aufgrund des Stromausfalls die Lüftung bei Käfighaltung ausgefallen ist und dadurch 20.000 Hühner gestorben sind.
  • Durch den Stromausfall gibt es kein fließendes Wasser mehr, was Auswirkungen auf die Kanalisation hat. Das wird recht eindrücklich beschrieben. Auch "Hinterlassenschaften" der vielen Menschen auf Wanderschaft sind immer wieder Thema. Das fällt bei anderen postapokalyptischen Szenarien oft unter den Tisch, weil eben nicht mehr so viele Menschen leben
  • Kühe müssen von Hand gemolken werden, Felder von Hand geerntet mit altem Gerät, was detailliert und sehr interessant geschildert wird
  • Wie wäscht man eigentlich Wäsche im Bach? Landfrauen organisieren einen Kurs.
  • Antibiotika werden knapp, andere Medikamente auch, besonders krass ist es bei Insulin für Menschen mit Diabetes Typ 1
  • Viel Lokalkolorit: Umbach, Wetzlar, Niedergirmes
  • Was passiert mit dem Müll, den niemand mehr abholt?
  • Jemand sinniert darüber, alles im "Steampunk-Stil" wieder aufzubauen
  • Bei Abhängigkeit von sozialen Medien kann es auch zum Entzug kommen - wird glaubhaft geschildert
  • Prepper kommen am Rande vor (hätte auch mehr sein können, für meinen Geschmack, die Nebenfigur des Majors hätte mehr Raum einnehmen können)
  • Die Erzählung des Gefängniswärters blieb sehr im Gedächtnis. Was machen sie mit 84 Mördern, Totschlägern und Vergewaltigern, wenn niemand mehr zum Schichtwechsel kommt? Das hätte eine richtig gute Kurzgeschichte on top sein können. Würde ich als Auskopplung empfehlen, falls er noch mehr Werbung für den Roman machen möchte. 
  • Botschaften übermitteln via Pony-Express
  • Wenn die Vorräte knapp werden, macht man dann noch Gefangene? (OK; das Thema ist nicht neu, aber immer wieder krass)
  • Werden Pferde und Haustiere geschlachtet, wenn der Hunger einsetzt?
  • Ohne Strom gibt es arge Probleme mit Kernkraftwerken. Auch im Nachwort wird das thematisiert. Der Roman umfasst nur wenige Wochen, sonst wäre das ein größeres Thema geworden.
  • "Moral muss man sich leisten können" Das Zitat könnte hier fast als Prämisse dienen

Buchaussage

Ich glaube, es gibt lediglich eine A-Story. Die steht quasi auch im Untertitel. Wenn die Zivilisation zerbricht, was bist du bereit zu tun, um zu überleben?

Das geht von Diebstahl bis zu Mord. Wobei im Roman ein klarer Unterschied gemacht wird zwischen "töten, um zu überleben" und "töten, um sich Vorteile zu verschaffen", was dann auch gut die Protagonist:innen von dem Antagonisten unterscheidet. 

 

Eine B-Story habe ich nicht so recht entdeckt, es geht schon sehr vordergründig um den Zerfall der Zivilisation und was die einzelnen Figuren daraufhin unternehmen. Natürlich kann man in Nebenplots B-Storys ausmachen, beispielsweise Maltes Verhältnis zu seinem Sohn und das Bedürfnis des Sohns, von seinem Vater endlich als erwachsenen angesehen zu werden. Aber eine B-Story, die auf den gesamten Roman passt, sehe ich nicht so recht. 

Wie bin ich zu dem Buch gekommen?

Der Autor hat mich angeschrieben und mir sein Buch zum Lesen angeboten. Es war SF und aus 2021, also habe ich es angelesen - und gut gefunden und innerhalb von zweieinhalb Tagen zu Ende gelesen (ich hatte gerade Ferien).

Rezeption

Es gibt zu Band 1 und 2 und dem Sammelband insgesamt locker mehr als 500 Rezensionen bei ihr-wisst-schon-wem. Das ist beachtlich für einen SF-Roman - und wäre auch dann beachtlich, wenn der Roman bei einem größeren Verlag herausgekommen wäre. Ich habe spaßeshalber mal geschaut, wie viele Rezensionen ein SF-Roman hat, der bei Knaur erschienen ist (16) oder bei Fischer Tor (30) und bin doch sehr beeindruckt.

 

Dann ist auch noch die Mehrzahl der Rezensionen positiv. Die wenigen negativen bemängeln ganz andere Dinge als ich. Ich fand den raschen Verfall der Zivilisation sehr glaubwürdig und war auch von der Recherche beeindruckt. Und dass es langweilig gewesen sein soll, kann nicht so gar nicht nachvollziehen. Doch die stark positiven Rezensionen sind hier eh in der Überzahl.

Über die Autor:in

Ich kenne den Autor von twitter und er hat auch eine Webseite. Es ist sein erster Roman.

Diversität

Es gibt eine weibliche homosexuelle Nebenfigur, eine weitere Figur, die vermutlich bisexuell ist und eine Schwarze Figur.

Darüber hinaus werden auch andere Bevölkerungsgruppen in Nebenplot repräsentiert, besonders hervorheben würde ich hier einen geistig behinderten Sohn, der aus seiner Einrichtung geholt werden muss. 

Inquits und andere Kleinigkeiten

Es ist mir erst nach ein paar hundert Seiten aufgefallen, aber es werden deutlich mehr Inquits verwendet als notwendig gewesen wäre. Oft wüsste ich auch so, wer spricht. Dadurch, dass nicht immer nur "sagen" verwenden wird, lässt sich das auch schwer überlesen. Es hat meinen Lesefluss gestört. Vor allem "reagierte sie /er" kam extrem häufig vor. Meiner Meinung nach hätte man die Dialoge viel schlanker halten können, ein gutes Lektorat hätte da sicher auch mal ordentlich gekürzt.

 

Mich persönlich stört auch, wenn Hervorhebungen im Dialog in GROSSBUCHSTABEN gesetzt werden.

 

In recht vielen Szenen färbt sich ein Hemd o. ä. dunkelrot, z. B. nach einem Schuss oder ähnlichem.

Content Notice

Themen wie sexuelle Gewalt oder sogar Kannibalismus werden angedeutet und finden eher "im Off" statt.

 

Es gibt massiven Rassismus seitens einiger Figuren und beide N-Worte werden mehr als zwanzigmal (in wörtlicher Rede) verwendet. 

 

Eine Stelle, in der sich zwei Frauen für sexuelle Gewalt rächen, ist extrem gewaltvoll und eindrücklich geschildert. Das war auch die krasseste Stelle im Buch - meiner Meinung  nach. Ich fand es aber passend und angemessen geschildert.

Harte Fakten

Titel Ohne Strom - Wo sind deine Grenzen? 
geschrieben von Markus Mattzick 
Rezensionsexemplar ja, danke dafür 
Erscheinungsjahr 2021 
Seitenzahl 868 
Original Twitter Tweet https://twitter.com/Rezensionsnerd1/status/1479367340588417024 
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