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The Lost Cause von Cory Doctorow

Zugegeben, ich kannte von dem Autor vorher nur Kurzgeschichten und Novellen. Noch keine Romane. 

 

Zeit wurde es, das endlich mal nachzuholen!

 

Aufgrund einer Rezension im Magazine for Fantasy and Science Fiction habe ich das Buch im Zug spontan gekauft und gleich gelesen.

 

Es hat kaum Längen, ein wenig Redundanz, ist spannend, hat tolle Charaktere (alle! Auch die Bösen sind gut durchdacht), einige wirklich starke Prämissen zum Thema Klimaleugner, die ich in dieser Deutlichkeit noch nie gelesen habe, und es ist in der Grundtendenz positiv, auch wenn einiges schief geht und es oftmals lebensgefährlich wird.

 

Brooks, der Protagonist, erzählt aus der Ich-Perspektive.

Worum geht's?

Der Protagonist, Brooks, ist (die meiste Zeit) neunzehn Jahre alt und lebt bei seinem Großvater, dem Vater seines Vaters. Der Vater ist gemeinsam mit der Mutter vor zwanzig Jahren nach Kanada ausgewandert, die (Klima-)politischen Differenzen zwischen ihm und seinem Vater und auch zwischen ihm und dem damaligen USA waren zu groß. Als Brooks acht Jahre alt war, starben beide Eltern an einem Virus. Übrigens eine Geschichte, die im Laufe des Romans erzählt wird und bei der es mir fast nicht möglich war, all meine Flüssigkeit im Kopf zu behalten.

 

Danach zog er zu seinem Großvater - der ein "Maga" ist, das ist so etwas wie ein rechter Klima-Leugner, der mit dem Gedanken spielt, Gewalt gegen Klima-Flüchtlinge anzuwenden und hierfür auch Waffen in seinem Haus versteckt hat, wie relativ zu Beginn des Romans auch klar wird. Der Großvater stirbt recht bald, und Brooks erbt das Haus, ein großes Haus mit tollem Grundstück. Nur natürlich muss er sich weiterhin mit den "Freunden" (politisch gleichgesinnten) seines Großvaters herumschlagen. Bald kommen aber auch Klima-Flüchtlinge in den Ort und die Hauptfigur wird Teil einer Bewegung, die neue Zuhauses für sie schaffen möchte. Doch die Gegenwehr der "Magas" ist riesig. Und gewaltvoll.

Weltenbau

Der Roman spielt in den 2050ern, die Welt hat sich aber nicht sehr stark verändert. Okay, Smartphones heißen nun anders. Es gab ein paar wirklich fiese, todbringende Pandemien. Viel mehr steht unter Wasser oder brennt. Man kann Häuser in deutlich kürzerer Zeit hochziehen als heutzutage (denke ich). Schwurbler gibt es allerdings noch immer.

Es gibt insgesamt mehr Hoffnung als heute, so empfindet es jedenfalls die junge Generation, aber auch mehr Flüchtlinge, und die Lebenssituation, ohne Zuhause zu sein, wird in vielen Szenen sehr eindringlich beschrieben. Hier hat Doctorow Großartiges geleistet. Insofern hilft es auch, dass der Protagonist zwar eigentlich in dem Ort zu Hause ist, dort sogar ein Haus besitzt, aber auch erst mit acht dorthin gezogen ist, nachdem er sein Zuhause und auch seine Eltern verloren hat. Das hat ihn - obgleich er in einer komplett anderen Situation ist - mit ausreichend Empathie ausgestattet, dass sein Engagement für die Flüchtlinge, das etwas über das durchschnittliche Maß vieler anderer hinausgeht, glaubhaft wird.

 

Doch es gibt auch andere, die sich engagieren, und in dem Kreis findet er Freundschaft. Und Liebe.

 

Darüber hinaus gab es zwischenzeitlich eine Präsidentin, Uwayni, und die hat quasi alle Waffen abgeschafft. Wobei es natürlich durchaus noch Möglichkeiten gibt, sich zu bewaffnen, aber Feuerwaffen sind illegal. 

Figuren rasch sympathisch machen

Ich war auf Seite 2 schon auf Brooks' Seite. Vielleicht sogar auf Seite 1. Alleine schon, wie er schildert, dass er als männliche Person eine eher hohe Stimme hat und wie ihn das nervt und wie die Freunde seines Großvaters sich darüber lustig machen: Touche. Got me.

 

Im ersten Kapitel gerät er auch gleich in eine potenziell lebensgefährliche Situation, obwohl es eigentlich sein Alltag hätte sein müssen, ein Konflikt mit einem der Gegenspieler eskaliert und Brooks kann seine Haut nur knapp retten. So bin ich schon mal eingestimmt für künftige Probleme.

 

Schön ist auch, wie sein Großvater Probleme mit Brooks' Sexualität hat, da dieser sich weigert, sich ein Label aufkleben zu lassen. 

Die Persönlichkeit des Großvaters ist auch nicht sonderlich ambivalent (die Beziehung von Brooks zu ihm schon eher), sie ist ganz gut zusammengefasst im Dialog mit dem Arzt:

 

"Your grandfather isn't senile, he's just ornery". Which was undeniable, and also pissed me the hell off. "Ornery" was a polite word for "asshole". What the doc was telling me was that Gramps didn't have to be cruel. He was cruel by choice.

Zeitgenössische Schilderung junger Liebe

Wer mal eine komplett untoxische, auf gegenseitigem Respekt beruhende Liebesgeschichte lesen möchte, ist hier richtig. Trotzdem ist es nicht unspannend. Ich mag auch, wie Doctorow den Sex andeutet. Die Liebesgeschichte ist nur ein Nebenplot, aber wichtig um Brooks stärker in seinem Ort zu verankern. 

Die Prämisse

Ich denke, die Botschaft des Romans, die "Öffnung des Horizonts" für mich persönlich, steckt in folgender Erkenntnis:

 

The Magas didn't want to watch the world burn. They sincerely wanted to save it. They weren't wrong because they were cruel.

They were cruel because they were wrong.

 

Die Antagonisten werden in dem Roman nicht so stark ausgeleuchtet, sie bleiben Nebenfiguren, selbst der Großvater. Sie machen erstaunlich böse Dinge und planen noch viel schlimmere (auch wenn diese größtenteils nicht klappen), insofern ist es ein erstaunlicher Gedanke (aber ein wichtiger), sich in sie hineinzuversetzen. 

 

Denn auch dreißig Jahre in der Zukunft sind nicht plötzlich alle Menschen auf der gleichen Seite, haben sich auf die gleichen Fakten geeinigt, auf einen großen Plan.

 

Zitate sagen mehr als meine Worte:

 

I'd been hearing this kind of thing since I was eight years old, these brainwashed dinosaurs were convinced that every idea to save the planet and our species was secretly a plan to turn them gay and force them to live in a slum.

(okay, an dem Teil des Plots war Brooks noch zynischer als später, bei dem Zitat weiter oben in dieser Passage)

 

"These guys were not going to dig a hole and climb in and disappear forever. Some of these dickheads were going to live for decades, maybe half a century, and they'd pass on all that bullshit to their kids, who's pass it on to their kids, who's pass it on ..."

[ ... ] "Not, like the fucking Civil War, like those Losst Cause crazies who are still angry that slavery ended. It's been centuries and they're still angry".

 

Hier wird einiges gesagt zum Thema Generationen, außerdem gibt es einen direkten Bezug zum Titel. Um das ins Verhältnis zu setzen, sagt aber die Sprecherin mit griechischen Wurzeln auch: "Who has ever gotten past this kind of thing? My Greek family still hate the Turks".

 

Insofern nützt es nichts, wenn einzelne Menschen dann irgendwann nicht mehr sind. Wir haben es hier mit einem ganz anderen Kaliber von Problem zu tun. Ich bin sehr beeindruckt davon, inwiefern dieser Roman mir ein paar Dinge klar gemacht hat, die vorher nur als vage Ahnung in mir herumschwirrten. Sehr lesenswert!

 

 

Genre: Hopepunk

Warum glaube ich das? Wenn ich davon ausgehe, dass "Punk" immer ein wenig impliziert, dass die Lösungen nicht von oben kommen, sondern eher eine Bewegung kleinerer Gruppen oder Einzelgänger ist, passt der Roman für mich in dieses Subgenre. 

Die Stadt an sich tut nichts (oder nicht genug) und Brooks und seine Freund:innen nehmen die Dinge irgendwann selbst in die Hand und stoßen durchaus auf Widerstand. Außerdem kommt die Polizei nicht immer allzu gut weg. 

Für mich tragen die Aktionen von Brooks deutlich zur Verbesserung der Lage der Flüchtlinge bei und die Gerichtsverhandlung könnte als Präzedenzfall taugen und Nachahmung finden.

 

Daher ist der Roman für mich (trotz allem) am Ende positiv, optimistisch und mutmachend. Ich bin vielleicht sogar ein bisschen zu alt, um das zu lesen und würde hoffen, dass der Roman übersetzt wird und viel Publikum findet, das vielleicht zwanzig, dreißig Jahre jünger ist als ich.

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