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Kindred von Octavia Butler

Inhalt

Der Prolog ist spannend, wenn ich mich auch dadurch etwas gespoilert fühle. Wenn man erst einmal die sehr phantastische Grundidee akzeptiert hat, ist der Roman sehr fesselnd. Es fällt mir ein bisschen schwer, einzusehen, warum die Ich-Erzählerin Dana fast zweihundert Jahre in die Vergangenheit geschmissen wird, um den weißen Jungen Rufus aus lebensgefährlichen Schwierigkeiten zu retten. Allerdings ist es so irre gut geschrieben, dass ich das schließlich akzeptiere, um mich auf das Geschehen einzulassen.

 

Dana ist eine ganz normale junge Amerikanerin, sie ist gerade mit ihrem Mann in ein eigenes Haus gezogen. Beide lesen offenbar sehr viel, denn in der ersten entscheidenden Szene sind sie gerade dabei, einen beachtenswerten Stapel Bücher in Regalen zu verstauen. Später erfahre ich dann, dass beide als Autor:in arbeiten.

 

Hier gibt es eigentlich drei Zeitebenen:

Die Ich-Erzählerin Dana stammt aus dem Jahr 1976. Hundert Jahre, nachdem die Sklaverei in den USA abgeschafft wurde. Dreizehn Jahre nach Martin Luther Kings berühmter "I had a dream"-Rede. Allerdings ist auch Danas Zeit keineswegs frei von Rassismus (meine ja auch nicht). Sie ist mit einem weißen Mann, Kevin, verheiratet. Das ist im Kalifornien der Siebziger Jahre nicht unproblematisch. Ihre eigene Familie sieht das nicht gern. Die Schwester ihres Mannes bricht deswegen den Kontakt ab. 

Dana findet sich durch unfreiwillige Zeitreisen in der Welt in Maryland, dem Süden der USA in den Jahren ab 1819 wieder. Es gibt im Norden freie Staaten, in denen es keine Sklaverei (mehr) gibt. Doch in Maryland gibt es nur wenige freie Schwarze. Wer keine Papiere hat, ist automatisch eine entlaufene Sklavin. "Nigger" ist zu dieser Zeit das Wort für schwarze Menschen. Kaum ein:e Schwarze kann lesen und schreiben. Selbst einige der weißen können es kaum. Beziehungen oder gar eine Ehe zwischen einer Schwarzen und einem weißen Mann (oder umgekehrt) sind undenkbar, aber es gibt durchaus Vergewaltigungen und somit "light skinned" Kinder unter den Schwarzen. 

Ich lese das alles in 2021, bin selber 1978 geboren, ungefähr zu der Zeit, als Butler damals den Roman schrieb. Rassismus gibt es immer noch. Ich habe zuerst gedacht, der Roman sei viel neuer und Dana würde aus 2018 oder so stammen und wäre fast zweihundert Jahre in der Zeit zurückgereist. Sie wirkt auf mich keineswegs wie jemand aus den Siebzigern, eher wie eine sehr moderne, selbstbewusste, gebildete Frau, die es (zu Recht) vollkommen absurd findet, dass jemand die Bezeichnung "Nigger" verwendet. Ihre Sicht auf die Welt des frühen 19. Jahrhunderts könnte die meine sein - auch wenn ich nicht Schwarz bin und dort einen ganz anderen Platz zugeteilt bekommen würde. Dana stammt aus meiner Zeit. Sie benutzt zwar keinen Ebookreader und kein Internet, aber sie könnte im Hier und Jetzt meine Nachbarin sein. Meine Freundin. In der Tat ist der Roman so gut gealtert, er hätte  letzten Monat geschrieben sein können.

 

Die Regeln des Romans werden am Anfang gesetzt. Sie sind eindeutig phantastisch und der Ursprung wird auch nie erklärt. Da sie im weiteren Fortgang nicht mehr verletzt werden, kann ich mich darauf einlassen.

 

Dana reist im Laufe des Romans immer wieder in die Vergangenheit, um ihren weißen Vorfahr Rufus zu retten. Zurück kann sie nur, wenn sie selber in Lebensgefahr gerät (oder glaubt, in Lebensgefahr zu sein). Gerät Rufus erneut in Gefahr, muss sie wieder ins Maryland des 19. Jahrhunderts, um ihn zu retten. Sie rettet ihn, anfangs eher instinktiv, da er noch ein kleiner Junge ist. Später findet sie heraus, dass er ihr Vorfahr ist und ihre eigene Existenz auf dem Spiel stehen könnte, wenn ihr die Rettung misslingt. 

 

Das Entsetzen wird umso greifbarer, da ein Mensch aus der heutigen Zeit es erlebt. Danas Leben ist von meinem nicht so verschieden. Das könnte ich sein. Die Ich-Perspektive macht das nur umso deutlicher.

 

Eine Stelle möchte ich mal herausheben, um sowohl die Stärke als auch die Schwäche des Romans aus meiner Sicht hervorzuheben: 

 

He [her husband Kevin]  looked at me uncertainly. ‘Look, if anything did happen, I could understand it. I know how it was back then.’

'You mean you could forgive me for having been raped?'

 

Die Ich-Erzählerin Dana berichtet hier ihrem Mann Kevin von ihrer Zeit in der Vergangenheit, vor allem bezüglich Rufus, der ambivalenten Beziehung, die Dana zu Rufus hat.  Kevin kennt Rufus und er hat selber fünf Jahre in dieser Vergangenheit verbracht, war also sogar länger dort als Dana selber, auch wenn er als weißer natürlich dort anders behandelt wurde.

Einerseits ist diese Stelle stark, da Dana klar macht, dass Frauen nicht dafür verantwortlich sind, wenn sie vergewaltigt werden. Sie entlarvt Kevins Spruch sehr gekonnt. Bei diesem Ausspruch Kevins ist in der Tat unklar, ob er meint, eine Vergewaltigung sei irgendwie auch nur entfernt verwandt mit Fremdgehen. Das ist großartig aufgedeckt. Dann verpufft es aber total - sie macht nichts daraus. Dabei hätte das einiges über die Beziehung zwischen Dana und Kevin aussagen können, die sowieso etwas seltsam anmutet. So richtig verstanden habe ich diese Ehe nicht. Es wird so getan, als könnten sie kaum einen Tag ohne einander sein. Kevin weiß, dass Dana ohne ihn in der Vergangenheit in ernster Gefahr ist, trotzdem verlässt er irgendwann die Gegend - obwohl er doch wissen muss, dass sie jederzeit wieder dort stranden könnte? 

 

Figurenzeichnung ist auch nicht so die Stärke des Romans. Mit der Ich-Erzählerin habe ich mich gut identifiziert, obwohl ich ihre Ehe nicht verstehe und nichts für Kevin empfunden habe. Alice, als wichtige Nebenfigur, bleibt mir total fremd. Tom Weylin (Rufus' Vater) hätte Potenzial als ambivalenter Charakter gehabt, das aber nicht ausgeschöpft wird. Rufus verstehe ich nur, als er klein ist. Als er dann erwachsen wird, werden mir seine Handlungen unklar. Die Figur der Mutter scheint komplett verschwendet zu sein. Andere Figuren bleiben total blass, vor allem unter den anderen Schwarzen in der Vergangenheit, dabei hätte es dem Roman gut getan, wenn diese Figuren ein wenig mehr Tiefe gewonnen hätten.

 

Kevin hätte durch seine fünf Jahre in der Vergangenheit eine stärkere Änderung durchmachen müssen, das hätte auch die Beziehung mehr beeinflussen müssen. Da kam aber nicht viel - dass er sich in der Küche nicht mehr zurechtfindet, reicht mir nicht, zumal er ja sowieso neu in das Haus gezogen war und sich daher dort noch gar nicht auskannte.

 

Trotz dieser Punkte hat mir der Roman sehr gut gefallen. Die Perspektive der modernen Frau zeigt überdeutlich, wie abwegig und menschenverachtend die Sklaverei war. An einer Stelle wird auch angedeutet, dass nur in den westlichen Ländern vor Ort die Sklaverei abgeschafft wurde, keineswegs weltweit. Auch wenn der phantastische Hintergrund hier für mich etwas gewollt wird (was sollten diese Zeitreisen?), hat das dazu beigetragen, die Sklaverei quasi mit eigenen Augen zu sehen. Dana ist mir nah genug, trotz der mehr als vierzig Jahre, die seit dem Schreiben des Romans vergangen sind.

 

Ich habe das Buch eher zufällig auf Englisch gekauft, da ich den deutschen Titel nicht kannte. Nun glaube ich aber, dass war hier eine gute Entscheidung. Die Sprache der Schwarzen im frühen 19. Jahrhundert ist schwer übersetzbar, wie ich von meiner Lektüre der (übersetzten) Tom-Sawyer und Huckleberry-Finn-Bücher weiß. 

Harte Fakten

Titel Kindred 
Autor*in Octavia Butler 
Erscheinungsjahr 1979 
Seitenzahl 320 

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