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Houston, Houston, bitte melden! von James Tiptree Jr.

Inhalt

Der Einstieg ist sehr gelungen. Der Protagonist Lorimer ist als Wissenschaftler Teil der Besatzung des Raumschiffs "Sunbird", das die Sonne umrundet. Wir lernen ihn gleich mittels einer sehr unangenehmen Erinnerung kennen, wie er während der Schulzeit im Mädchenklo landete - selbstverständlich den "bleichen Spargel in der Hand". Kein Wunder, dass er Frauen gegenüber immer noch recht unsicher ist, und das, obwohl er längst verheiratet ist und seine Frau Ginny  schwanger auf der Erde zurückgelassen hat.

Das Setting am Anfang ist für mich als Leserin etwas verwirrend. Wer sind all die Leute? Ist das eine Art Weltraumparty?

Doch bald schon wird es überschaulicher für mich. Kurzer Schwenk zu Was-vorher-geschah: Lorimer und zwei andere Männer, der Kommandant Dave und der Astronaut Bud, sind auf dem Weg von ihrer Sonnenumrundung zurück zur Erde. Bei ihrem Versuch, Houston zu kontaktieren, nimmt stattdessen ein anderes Schiff Kontakt zu ihnen auf. Houston bleibt still. Die drei Männer rätseln, wer dieses andere Schiff sein soll, zumal nur Frauenstimmen zu hören sind. Die Frauen machen sie via Funk darauf aufmerksam, dass die "Sunbird" nicht auf dem richtigen Kurs zur Erde sind. Dave protestiert, er habe es genau ausgerechnet für Oktober. Doch die Frau widerspricht: Es sei März!

 

Das ist nur die erste spannende Stelle in der Erzählung, es folgen noch weitere, was aber Spoiler bedeuten würde. Dazu siehe unten. Man kann die Geschichte auf vielerlei Arten lesen, zum Beispiel als feministisches Statement oder Kommentar gegen das Patriarchat. Selbst wenn man es nur als spannende SF-Erzählung liest, ist es herausragend, extrem gut, spannend, viele Wendungen mit denen ich teilweise gerechnet habe, teilweise aber auch nicht. Die medizinischen Details sind überzeugend. Ich bin sehr begeistert von diesem Plot.

 

Ich habe das gelesen, weil die Erzählung den Hugo gewonnen hat, und weil ich sowieso etwas von James Tiptree lesen wollte und mit "Die Mauern der Welt hoch" noch nicht so gut zurechtkomme. So war es zufällig im Science Fiction Story Reader 17 (HG: Wolfgang Jeschke), das ich gebraucht bei Medimops gekauft hatte, da konnte ich gleich hineinlesen.

Diversität

Die Geschichte spielt ein paar hundert Jahre in der Zukunft. Mindestens eine der Frauen, die die drei Männer in ihrem Raumschiff aufnehmen, ist Schwarz.

Außerdem ist anzunehmen, dass die Frauen in der Erzählung nicht heterosexuell sind. An einer Stelle schwärmt eine der Frauen von Liebesgeschichten auf eine Art, die annehmen lässt, dass sie sie nicht nur aus der Theorie kennt. Aber es bleibt eben recht viel zwischen den Zeilen.

Nicht spoilerfreie Überlegungen

Als James Tiptree Jr. 1977 für diese Geschichte den Hugo gewann, wusste noch niemand, dass hinter dem Pseudonym die Frau Alice Sheldon steckte. Faszinierend. Natürlich hätte auch ein Mann diese Geschichte schreiben können, ein bemerkenswert feministischer Mann allerdings. 
Denn die Männer kommen in der Geschichte alle nicht sehr gut weg.

Bud ist völlig überzeugt davon, dass jede Frau sich nach Sex mit einem Mann sehnt und der bei der ersten Gelegenheit eine der Frauen greift und vergewaltigt. 

Dave steht ihm in nichts nach, ist sogar schlimmer, schnappt sich eine Waffe, beruft sich auf seinen christlichen Glauben und hält eine Rede, in der er klar postuliert, der Mann sei den Frauen überlegen, sie kämen alleine nicht klar und er würde jetzt das Ruder übernehmen. Was für eine Idee! Nachdem die Frauen hunderte von Jahren sehr gut alleine klar gekommen sind, möchte er ihnen nun zeigen, wie das alles funktioniert. Dass Mansplaining so heftig sein kann, war selbst mir nicht klar.

Der Protagonist, Lorimer, ist viel zurückhaltender. Vermutlich wären die Frauen auch nie darauf gekommen, auch in ihm misogyne Züge zu entdecken. Doch sie haben allen drei Männern eine Droge verabreicht, die dazu führt, dass diese ihre Gedanken aussprechen. Und auch Lorimer hat misogyne Gedanken. Er bewundert die Alfa-Männer Dave und Bud und wäre auch gern wie sie. Ertappt versichert Lorimer, dies seien nur Gedanken, er würde sich nie danach verhalten. Doch die Frauen machen ihm klar, dass sie in ihrer Welt keinen Platz haben für Menschen mit solchen Gedanken.

 

Warum also gibt es auf der Erde in dieser Zeit nur noch Frauen? Vor einigen hundert Jahren hat es eine Epidemie gegeben, die die Fruchtbarkeit beeinträchtigt hat. Die Frauen, die ja ihre Eizellen bereits mit sich tragen, sind besonders betroffen gewesen. Die Männer produzieren ja ständig Sperma, das neue Sperma war also gesund. Entstand ein Mädchen, konnte das gesunde X-Chromosom das fehlerbehaftete X-Chromosom der Frau kompensieren. Aber bei Jungen war dies nicht möglich, da nur das X-Chromosom der Frau vorhanden war. Daher wurden keine Jungen mehr geboren. Irgendwann waren dann natürlich keine Männer mehr da, so dass nur noch geklont (und ausgetragen in den Mütterleibern) wurde und keine neuen Genotypen entstanden mehr. Die Evolution des Menschen ruht. 

 

Zwei Millionen Frauen leben in Nordamerika, der Rest der Erde ist leer. Es gibt 11.000 verschiedene Genotypen, die immer wieder geklont werden, die rein weibliche Bevölkerung lebt im Einklang mit der Natur, weitgehend ohne Hierarchie. 

 

Offenbar haben sie immerhin Buds Sperma gesichert, um sich neue Genotypen zu verschaffen, ansonsten haben sie keineswegs vor, die drei Männer in ihre Gesellschaft zu integrieren. Es liest sich so, dass die Männer sterben müssen. Oder zumindest ruhiggestellt werden, vielleicht noch angezapft (das bleibt meines Erachtens etwas unklar). Die Frauen deuten immerhin an, dass es denkbar wäre, sie zu klonen und die Jungen nach ihrem Sinne zu erziehen, so dass sie anders wären als die Männer. Ob die Gewalt und Misogynie anerzogen oder angeboren ist, bleibt demnach offen. Doch diesen drei Herren wird nicht vertraut.

Harte Fakten

Titel Houston, Houston, bitte melden! (Original: Houston, Houston; do you read?) 
Autor*in James Tiptree Jr. (Alice Sheldon) 
übersetzt von Walter Brumm 
Erscheinungsjahr 1976 
Seitenzahl ca. 70 
Original Twitter Tweet https://twitter.com/Rezensionsnerd1/status/1399617161312735235 

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