· 

DAVE von Raphaela Edenbauer

Inhalt

 

2021 erschienen, von einer Frau geschrieben und top gute Literatur. Eine Win-Win-Win-Situation sozusagen. 

 

Der Weltenbau passiert fast wie nebenbei. Da fallen dann Nebensätze wie "die Außenwelt wieder bewohnbar machen". Sofort frage ich mich: Seit wann ist die denn unbewohnbar? Was ist passiert? Was machen die da?

 

Von der breiten Masse wird ein Einheitsbrei gegessen. Auch Syz, unser Ich-Erzähler, musste diesen für den Großteil seines Lebens zu sich nehmen, bis er im Laufe der Romanhandlung eine Beförderung zur upper Crust erfährt.

Dazu herrscht Zwangsveganismus, der seit kurzem für die meisten gilt. Plus, die Platzprobleme und Behausungen, in die man eigentlich nur noch rollen kann. Uff. Was die Extrapolation in die Zukunft betrifft, ist der Weltenbau (bis auf wenige Ausnahmen, zu denen ich noch komme), gelungen.

 

Es dauert eine Weile, bis der Protagonist Syz mich wirklich packt, aber dann hat er mich (Szene aus der Vergangenheit mit dem Vater). Überhaupt ist die Autorin extrem geschickt. Rückblenden sind gar keine, sondern es ist für den Plot notwendig, dass der Ich-Erzähler über seine Vergangenheit berichtet.

Infodump braucht sie nicht, sie lässt den Ich-Erzähler einfach eine Rede halten und hat so eine Art Essay in den Roman eingebaut und zwar dort, wo er natürlicherweise hinpasst. So kann sie auch ihre bewundernswerte Vielfalt zeigen. Später werden mir diese essay-ähnlichen Einschübe trotz allem Geschick allerdings zu viel.

 

Ich-Erzähler Syz ist 28 Jahre alt und ein ziemliches Genie, was Mathe und Programmieren betrifft. Überhaupt - dass die Hauptfigur sich beruflich ständig mit Programmcode beschäftigt, hat mir sehr gefallen. Man könnte meinen, man sei bei Cory Doctorow, aber der Stil ist Umberto Eco viel näher. Es werden unglaublich viele Worte verwendet, die nicht zu meinem aktiven Wortschatz gehören, wie "ungeschlacht" oder "Impetus".

Darüber hinaus gibt es so viele tolle Metaphern, dass es eigentlich ärgerlich ist, dass ich das Hörbuch habe.

 

Die Geschwindigkeit ist eher langsam, der Plot entfaltet sich allmählich und ist keineswegs rasant. Wobei die Autorin durchaus auch rasante Action beschreiben kann, was sie gleich zu Beginn bei der Schilderung einer Katastrophe mit heiß laufenden Servern unter Beweis stellt.

 

Art des Erzählens

Sie kann so schreiben, wie ich es mag. Szenisch, actionreich, so dass ich einen überzeugenden, inneren Film vor Augen habe. Nur macht sie es nicht immer. Natürlich hatte sie teilweise gute Ideen, wie sie ihre essayistischen Ideen zur Entwicklung der Welt in der zukünftigen Vergangenheit, KI und Mnemotechnik unterbringen kann.

Aber es waren mir zu viele Ideen, zu viele Essays innerhalb eines Romans. Da wäre es mir lieber gewesen, sie hätte den Mut gehabt zu kürzen. Ich bin schließlich nicht bei einer Fachkonferenz.

 

Sprache

Die Sprache sehr anspruchsvoll. Generell ist es einfach verdammt gut geschrieben und kann mit Ishiguro locker mithalten. Gelegentlich ist es allerdings ein Fremdwort zu viel und die Verwendung ist auch nicht immer einwandfrei.

 

Leider gab es schon einige Phrasen, aber nicht so viele, dass mir das Lesen verleidet wurde.

 

Manchmal wurde die Verwendung von Fremdworten zu abgefahren. Natürlich muss man nicht immer alles "digestieren", anstatt einfach zu essen oder zu verdauen.

Und es gibt auch Stufen, nicht nur Stiegen. Oftmals war die Verwendung von Fremdworten sinnvoll, aber manchmal hätte man statt "amalgasieren" auch einfach "verschmelzen" schreiben können, das hätte mich an der Stelle weniger aus dem Text geworfen.

Es gab aber auch sehr viele schöne Ideen für gelungene Sätze, schöne Vergleiche.

 

Außerdem: "Ich erinnere ihn" im Sinne von "ich erinnere ich an ihn" klingt irgendwie sehr englisch. Kommt mehrfach vor.

 

Anspielungen auf Popkultur

Eine wichtige Nebenfigur (Morgenstern) erwähnt Philip K. Dick und die orthogonale Zeit. Witzig finde ich, dass der Ich-Erzähler von sich selber sagt, er möge keine SF.

 

Die Pokémon-Szene hat für mich nichts zur Handlung beigetragen.

  

 

Zeit, in der der Roman spielt

Ich war von einer Dystopie in mindestens fünfzig Jahren ausgegangen, eher später. Das haut aber nicht hin. Wir befinden uns offenbar in einer Parallelwelt der Neunziger Jahre. Programmiert wird vor Röhrenbildschirmen, die Steckverbindungen sind auch alt (Cat5-Kabel). Handys gibt es nicht. USB-Sticks allerdings schon. Ich bin erfolgreich verwirrt.

 

Lob und Kritik

Einige Gedanken waren mir zu schlimm oder zu absurd. Überbevölkerung - ja, klar. Aber Geschlechtsreife ab fünf Jahren? Säuglinge gebären Säuglinge? Beim ersten Gedanken empfinde ich Horror, den zweiten finde ich nur lächerlich.

Auch sonst war das Leben in der Außenwelt eher bizarr geschildert. zu krass, um noch glaubwürdig zu sein. Vermutlich war das gewollt, aber mich hat es daher nicht berührt.

 Die Plotwendungen vor allem im letzten Drittel waren interessant. Einige Szenen waren sogar richtig spannend. 

Der Schluss war super. Der hat es für mich herausgerissen von drei Sternen zu vier Sternen.

 

Sprecher Nils Nelleßen 

Er hat das extrem gut gelesen und vermutlich einige schwer verständliche Stellen durch gute Betonung für mich zugänglicher gemacht. Außerdem klingt seine Stimme angenehm.

Rezeption des Romans

Der Deutschlandfunk bemängelt in seiner Rezension, dass die Handlung nicht wirklich fesselt und man auf Distanz zu Syz bleibt. Man würde nicht mitfühlen.

Was die Handlung betrifft, stimme ich bis auf einige sehr gelungene Szenen zu, Mitgefühl mit Syz hatte ich aber stellenweise durchaus.

Es wird richtig angemerkt, dass die Sprache gewöhnungsbedürftig ist.

 

Wenn man die Ein-Sterne-Rezensionen bei amazon liest, wird es unterhaltsam. Da haben einige Leser:innen die ganzen verunglückten Sätze herausgesucht. Das fällt natürlich teilweise beim Hören viel weniger auf. 

Raphaela Edelbauer

Ihr Debüt "Das flüssige Land" ist erst zwei Jahre her, damit landete sie 2019 auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis

 

Beim Lesen hatte ich mich gefragt, ob sie etwas mit Informatik zu tun haben könnte, aber die Autorin ist studierte Philosophin.

Diversität

Eine der Personen ist blind und wird sehr bewundernd geschildert. Eine andere hatte Polio und hinkt nun. 

Harte Fakten

Titel DAVE 
geschrieben von Raphaela Edelbauer 
Verlag Klett-Cotta 
Rezensionsexemplar nein 
Erscheinungsjahr 2021 
Seitenzahl 420 
Länge Hörbuch 12 Std. 44 
eingesprochen von Nils Nelleßen 
Original Twitter Tweet https://twitter.com/Rezensionsnerd1/status/1439892689818988548 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0