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Dies ist mein letztes Lied von Lena Richter

Inhalt

"Alle hier sehen das Tor, doch nur eine Person kann hindurchgehen. Nur eine Person. Nur ich."

 

Ein Hoch darauf, dass Kleinverlage gibt, die erstens Novellen abdrucken und zweitens Experimente wagen.

Diese Novelle ist ein für mich sehr gelungenes SF-Experiment. 

  

Die Struktur hat mir gefallen. Es gibt einige Sätze bzw. Satzstrukturen, zu denen die Autorin in jedem der Kapitel (Auftakt, die sieben bzw. acht Lieder und das Schlussstück) zurückkehrt. 

 

Das passt auch zum Inhalt der Novelle und zum erzählenden Ich Qui. Ich entdecke Vertrautes in jedem Lied und auch Variation.

Zur Novelle: Inhalt und Figuren

Ich werde rasch abgeholt, weil das erzählende Ich Qui beim Spielen eines Instruments eine Pause eingelegt hat, wie so viele Kunstschaffende auch in unserer Welt, weil es andere Zwänge gibt und Geld verdient werden muss. "Irgendwann, nahm ich mir vage vor, irgendwann würde ich wieder anfangen.

 

Das Bedürfnis zu spielen und die Nähe zu den unterschiedlichen Instrumenten wird schön dargestellt. Selbst für unmusikalische Leute, die keine Instrumente spielen (wie mir) wird das glaubwürdig und die Leidenschaft zeigt sich an vielen subtilen Stellen. 

 

Durch das Spielen des Lieds öffnet sich ein Tor und Qui kann es durchqueren. So reist Qui durch acht Welten, bis Qui das Lied spielt, das wiederum ein neues Tor öffnet, zunächst zu neuen Welten, bis zum letzten Lied.

 

Ich habe Lieblingswelten, oder, vielmehr Lieblingslieder innerhalb dieser Novelle:

 

Das dritte Lied mag ich sehr, es spielt auf einem KryoFrachter und fünf Menschen sind wach, während die anderen die Reise im Kryoschlaf erleben.

Der Planet musste aufgegeben werden, da die Sonne vor ihrer Zeit erkaltete, allerdings sind einige auch geblieben. Kommuniziert wird mittels Übersetzungsmodul.

Das große Ganze ist hier ebenso wichtig wie die Einzelschicksale. Jene fünf, die wach bleiben, reisen 93,4 Jahre, werden also kein Leben an dem neuen Ort führen, sie verbringen ihr Leben auf diesem Frachter. 

 

Auch das vierte Lied ist ein Favorit, als Qui für die sterbende Welt spielt und nichts und niemanden mitnehmen kann durch das Tor, das sich am Ende für Qui öffnet.

 

Die Geschichte um T''irl, die Liebe, als Qui gar nicht weg will, gefällt mir auch, aber auch diese Episode dauert natürlich nicht an. Das siebte Lied. Und natürlich das letzte Lied, da schließt sich der Bogen und ich lege die Novelle fort und frage mich, ob ich am besten gleich noch mal von vorn zu lesen beginne.

Sprache und Stil

Die klare Struktur wird unterstrichen durch die gezielte und gut platzierte Wiederholdung des Satzes Dies ist mein letztes Lied, es erzeugt auch während des Auftakts Neugier - wieso ist das Quis letztes Lied? Was hat es mit den Toren auf sich?

 

Alles ist im Präsenz geschrieben, was ich sehr mag.

 

Ich finde keine zu mainstreamigen Formulierungen oder gar Phrasen, im Gegenteil, Metaphern und Vergleiche, die zum Setting passen. Die Kreativität und Sorgfalt der Autorin kann ich nur begrüßen, wer viel liest, findet viele schöne Formulierungen, die es eben nicht überall sonst im Sonderangebot gibt.

 

Zu jedem Lied gibt es einen prägenden, passenden Satz, hier ein Beispiel:

"Mein drittes Lied spiele ich für 47.312 Lebensformen in Kryostase und die fünf Menschen, die über sie wachen."

Sozialkritik

Durch die unterschiedlichen Welten, die gezeigt werden, lässt sich manchmal auch Sozialkritik äußern, natürlich vordergründig bezogen auf die jeweilige erdachte Welt (wie Deriton 5), doch es finden sich Entsprechungen in der unseren Welt.

So hatten

"Wrenn und Nddar [...] (haben) eine ausreichend große Summe gespart, und verloren sie vollständig durch eine hohe Strafzahlung an Sarciplex, weil herauskam, dass sie ihre Wohneinheit als Geschäftssitz angegeben hatten."

Parallelen, vor allem zu Kunstschaffenden in unserer Welt, lassen sich viel zu leicht finden.

Im gleichen Kapitel wird eine vielversprechende Sportkarriere beendet, weil jemand hohe Rechnungen für einen Unfall des Vaters zahlen muss. 

Weltenbau

Ich bin großer Fan des Weltenbaus! So viele Welten, und dann werden in Nebensätzen Informationen losgelassen wie Lekkora, diese asteroidenumspannende Metropole. Schon stelle ich mir diesen Ort vor und frage mich, wie genau die einzelnen Asteroiden miteinander verbunden werden und gerade weil eben nicht alles haarklein erklärt und beschrieben wird, können wir SF-Fans die Lücken selbst füllen. Das lässt alles viel lebendiger werden als ausufernde Beschreibungen, die die Handlung stoppen. Dabei erhalten wir immer wieder kleine Informationen, die das Bild schärfen und erweitern. Genauso mag ich es.

 

Wer viel SF liest, kennt dieses oder ähnliches auch, so dass ein Erklären überhaupt nicht nötig ist. Ich weiß es zu schätzen, dass die Autorin das offenbar weiß und daher genau so viel verrät, wie für mein Kopfkino, mein Logikbedürfnis und die Atmosphäre der Geschichte notwendig ist - und eben nicht mehr.

 

Schön, wenn in einem Satz über Preise auch mal "Freikarten für ein ScreenDrama" erwähnt werden, ich kann mir darunter etwas vorstellen. Und ich kenne auch die Zovhir-Wasserfälle nicht, 

 

Da gibt es in einer Nebenbemerkung einen "Stand, der Insektenspieße verkauft". Absolut vorstellbar, aber trotzdem fällt es mir eben auf.

 

Ich mag auch Beschreibungen von Planeten wie:

"Eine Hälfte des Planeten liegt in ewigem Tag, die andere in ewiger Nacht und beide liegen miteinander im ewigen Krieg."

Buchaussage

Laut der Danksagungen war die Inspiration ein Straßenmusiker, der laut (auf Englisch) verkündete: Dies ist mein letztes Lied.

Damit hat alles angefangen. Wie wäre es, wenn es wirklich und wahrhaftig das letzte Lied ist und danach verschwindet man von dieser Welt (oder allen Welten)?

 

A-Story: Qui reist durch die Tore, lernt Welten kennen, die Qui gern wieder verlassen  oder eben auch am liebsten dort bleiben würde, aber sich das nicht aussuchen kann. Wenn es Zeit dafür wird, spielt Qui das Lied und danach geht Qui durchs Tor und betritt die nächste Welt.

 

Eine B-Story zu finden ist schwieriger, zumal ich vermute, jedes Kapitel (jedes Lied) hat eher seine eigene B-Story und Prämisse. Würde ich etwas finden, das ich für alle Kapitel, für das Gesamtwerk anwenden kann?

Vielleicht: Füge dich deinem Schicksal und deiner Aufgabe und lebe entsprechend für den Augenblick und aufrichtig, und achte darauf, was du sinnvolles für die Nachwelt zurücklässt.

Das würde zu allem passen, auch zum Schluss. 

Unser aller Leben ist begrenzt. Wir alle spielen irgendwann unser letztes Lied und verlassen diese Welt. Was bleibt dann von uns? Was haben wir aus unserer Zeit (unserer Spielzeit/Bühnenzeit) gemacht?

 

Eine wundervolle Novelle, die, obwohl sie sich so sehr auf das Ende zu konzentrieren scheint, eigentlich mehr über das spricht, was vor dem Ende passiert und was nach dem Ende bleibt. 

Über die Autor:in

Die Autorin ist mir vor allem als Herausgeberin der Queer*Welten schon länger ein Begriff. Hier ist ihre Webseite.

Im Juli 2022 in Bremen hatte ich das Vergnügen, bei einer Lesung in Bremen schon mal einen Auszug aus dieser Novelle zu hören und hatte seitdem Vorfreude.

Diversität durch Sprache

Es gibt mehrere Neo-Pronomen (z, B. sier /sien und als Neo-Relativpronomen dien, fand ich sehr gut lesbar), während Qui selbst offenbar keines nutzt. Wenn weder Mrs. noch M. passt, gibt es Mx, was mir gefällt. 

Pluralbildung mit * kommt auch vor. Das lese ich in letzter Zeit in deutschsprachiger Prosa häufiger, so auch in Die Leitung von P. M., das ich seither gelesen habe. Sonst war ich eher "unauffälligeres" Entgendern gewohnt wie in Laylayland.

Es gibt aber auch selbst erfundene Pluralformen wie "Mechanex".

Harte Fakten

Titel Dies ist mein letztes Lied 
geschrieben von Lena Richter 
Verlag OhneOhren 
Erscheinungsjahr 2023 
Seitenzahl 100 
Original Twitter Tweet https://twitter.com/Rezensionsnerd1/status/1626142969244839937 
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Kommentare: 3
  • #1

    Achim Stößer (Dienstag, 24 Oktober 2023 16:59)

    Ich habe das Buch nicht gelesen, aber nach dem, was ich *darüber* gelesen habe (magische Türen o. ä.), sehe ich nicht, dass das SF ist, klingt für mich recht eindeutig nach Fantasy.

    Wenn dem so ist, scheint mir das eine bedenkliche Tendenz zu sein. Vor ein paar Wochen war ich bei einer (angeblichen) Science-Fiction-Online-Lesung. Zuerst gab es eine Story über Amazonen, dann eine über Elfen oder Feen, alles eindeutig Fantasy – klar, ein Krimi, in dem der Serienmörder »Zahnfee« genannt wird, weil der die Zähne seiner Opfer sammelt, ist nicht unbedingt Fantasy, und wenn irgendwelche Alien-Fauna an Drachen erinnert, ist das ggf. auch SF, aber solches war hier nicht der Fall. (Später wurde dann tatsächlich noch etwas SF gelesen, aber das hat es auch nicht rausgerissen). Als ich nachfragte, hieß es u. a. sinngemäß, ich hätte nicht die Deutungshoheit darüber, was SF sei (und das war noch vergleichsweise höflich) *augenroll*.

  • #2

    Achim Stößer (Dienstag, 24 Oktober 2023 17:00)

    Keine Ahnung, warum mein Kommentar doppelt ist; Feenzauber wird es nicht gewesen sein, eher ein technisches Problem ;-).

  • #3

    Achim Stößer (Dienstag, 24 Oktober 2023 17:02)

    Und schon ist der doppelte verschwunden … Magie?