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Gras von Bernhard Kegel

Dieser Roman, erschienen im Dörlemann-Verlag, hat mir wirklich Spaß gemacht. 

 

Nicht nur, dass ich lange genug in Berlin gelebt habe, um die Orte wiederzuerkennen und den Lokalkolorit von zur Bahn hetzenden Menschen und Mini-Döner mit scharfer Soße zu schätzen. Auch organisatorisch kennt hier jemand unsere Hauptstadt und ihre Einwohner sehr genau, um ein glaubhaftes, sehr mitreißendes Szenario zu entwerfen. 

 

Außerdem bewundere ich die Art des Autors, sich glaubhaft in eine junge Master-Studentin, seine Hauptfigur Nathalie, hineinversetzen zu können.

Worum geht's?

Auf dem Weg zur Uni entdeckt Nathalie auf dem Bundesplatz zwischen den Ritzen ein unbekanntes Gras. Als Biologie-Studentin auf dem Weg zum Master-Abschluss kennt sie sich eigentlich mit Pflanzen aus? Aber was ist das für ein Gras?

Zunächst beachtet niemand außer ihr das fremde Gewächs, doch das ändert sich, als es höher und höher wächst und schließlich die Betonplatten nach oben drückt und letztendlich Straßen unpassierbar macht.

 

Dieser Roman ist aus mehreren Blickwinkeln sehr interessant. Einmal kann ich es als einen Roman über ein unbekanntes Gewächs lesen, "Invicto", ein unbesiegbares Gras, das alles einnimmt, sich überall verbreitet und damit die Infrastruktur der Hauptstadt zerstört. Es wird mannshoch, sofern man es nicht abschneidet und lässt sich mit Herbiziden immer nur für kurze Zeit bremsen. 

Es gibt einige Ideen, wie das Gras überhaupt auf den Bundesplatz in Berlin-Wilmersdorf gekommen sein könnte, aber es bleibt viel auch meiner Vorstellung und Spekulationskraft überlassen.

 

Ich kann den Roman auch lesen als einen starken Berlin-Roman. Wie geht die Hauptstadt mit dem Problem um? Wann gibt sie auf? Was muss dafür passieren? An welchen Stellen halten die Menschen zusammen, an welchem Punkt geraten sie gegeneinander? 

 

Doch ich kann den Zirkel auch enger um die Hauptfigur Nathalie ziehen, aus deren Sicht zu 95% erzählt wird, was macht diese Entdeckung und Entwicklung mit ihr? Wie reagiert sie? Welchen Stellenwert hat das Gras für sie? Warum bleibt sie in der Hauptstadt, obwohl es gut möglich ist, dass das Endzeitszenario örtlich auf Berlin begrenzt ist?

Obwohl sie sich an vielen Stellen völlig anders entscheidet, als ich selbst es mit Sicherheit getan hätte, bleibt es doch glaubhaft. 

 

Der Roman denkt vieles zu Ende oder geht zumindest so weit, dass ich mir den Rest selbst zu Ende denken kann. Er eröffnet Räume, spielt bestes "Was-wäre-wenn?" mit meinem Kopf, so wie beste Science-Fiction es vermag. 

Die Figuren

Es gibt nur zwei Szenen, die nicht aus Nathalies Sicht verfasst sind. Während ich der Szene mit dem Dönerladen-Besitzer noch einiges abgewinnen kann (auch wenn sie für den Roman nicht zwingend notwendig ist), fand ich die mit dem fliehenden Familienvater deutlich under-achieved. 

Sehr gelungen für mich sind jedoch die zwei oder drei eingestreuten Zeitungsartikel, da die auf den Punkt kommen und vor allem der letzte noch mal eine andere Sichtweise erlauben, die Nathalie in Richtung einer unzuverlässigen Erzählerin drängen (aber nur ganz leicht).

 

Nathalie fand ich glaubhaft, auch wenn punktuell vielleicht mehr gegangen wäre, in der Hauptsache durch ihre Beziehungen zu anderen Figuren, wie ihrem Freund Nick. Doch Nick ist eine Figur fast komplett ohne eigene Agenda, und auch der Allergiker, der mit ihnen in der WG wohnt, bekommt nur eine eindrückliche Szene. 

Besser geschildert ist das Verhältnis zu ihrer Doktor-Mutter, oder zu dem alten Nachbar Armin, oder, der unvermeidliche Fiesling in einer Apokalypse, Rattke, der selbstverständlich nicht nur kleine Auftritte hat. 

 

Doch noch deutlich besser, ausbalancierter und ambivalenter schildert der Autor  mir die Beziehung zu dem Kind Marie. Da kennt sich jemand mit Kindern aus! Kinder sind nicht still, nur weil Lautstärke Gefahr verursacht. Und auch die Szenen mit dem jungen Elefantenbaby sind gelungen und ziehen mich emotional mit. Das war eine sehr schöne Idee und ein Gewinn für den Showdown des Romans.

Prämisse und Fazit

Über die Prämisse müsste ich noch etwas nachdenken und diskutieren, aber nicht, weil der Roman zu vage ist, sondern eher, weil er viele Türen auf eine angenehme und auch ambivalente Weise öffnet. Er zeichnet einen interessanten Raum für mich, in dem ich gern länger verweilen und noch etwas nachdenken würde.

 

Könnte es in die Richtung gehen, dass gewisse Dinge nicht (sofort) besiegbar sind? Dass wir Konsequenzen ziehen müssen, auch wenn sie uns nicht gefallen?

Wie stark muss der Druck werden, bis du deine Heimat verlässt?

 

Oder auch, dass niemand sicher davor ist, seine Heimat zu verlieren, selbst nicht die Menschen in der größten Stadt Deutschlands?

 

 

Ein außerordentlich interessanter, gut geschriebener Roman. In der Qualität bekomme ich das in unserer Science-Fiction-Szene eher selten geboten.  Der Autor ist aber auch definitiv keiner, der auf unser Genre festgelegt ist. Wie schön, dass er mal einen Ausflug in apokalyptische Plots gemacht hat!

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