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Persistence of Vision von John Varley

Inhalt

Eine wichtige Sache vorab: Der Ich-Erzähler erzählt hier von Menschen, die absolut nichts hören und sehen können. Taubblind meint ja sonst ein eher vielfältiges Spektrum von Hör- und Sehschäden. 

 

1964/65 kam es tatsächlich in den USA zu einer umfangreichen Röteln-Epidemie. Damals gab es noch keine Impfung. Laut der wikipedia waren 20.000 Neugeborene betroffen. Im Rahmen der Geschichte erzählt der Protagonist, dass 5000 hiervon taubblind geboren wurden. 

 

Der 47jährige Ich-Erzähler lebt zunächst in Chicago, verliert seinen Job und nutzt die Gelegenheit, sich sein Land anzuschauen, mit dem vagen Ziel Japan (wo er allerdings nie ankommt). Er wandert zu Fuß und per Anhalter, völlig ohne Geld, arbeitet tageweise auf Farmen für Kost und Logis und lernt etliche Kommunen kennen. Sein Horizont ist also schon erheblich erweitert, als er auf die Kommune der Taubblinden trifft. Er hat beispielsweise Zeit in Nudisten-Kommunen verbracht, bei religiösen Fanatiker:innen, in reinen Männergruppen oder reinen Frauengruppen. Später recherchiert er, wie es zu der taubblinden Kommune gekommen ist und gibt diese Informationen auch an mich als Leserin weiter. Nach der oben erwähnten Röteln-Epidemie standen die offiziellen Stellen vor einem mächtigen Problem. Normalerweise gibt es nur etwas mehr als hundert taubblinde Babys in den USA und für diese gibt es spezielle Schulen und Personal, das ihnen Gebärdensprache usw. beibringt. Außerdem gibt es Intelligenztests, denn einige der betroffenen Babys sind nicht nur taubblind, sondern auch geistig beeinträchtigt. Mit plötzlich statt nur hundert fünftausend Kindern sind alle mächtig überfordert. Nach und nach kristallisiert sich eine Gruppe von taubblinden Menschen heraus, die den Wunsch nach Autonomie verspüren und, zunächst unter Leitung einer Frau namens Janet, mithilfe eines Architekten und eines Anwalts ein Stück Land zu kaufen und zu bebauen. Ziel ist absolute Eigenständigkeit. Obwohl es einige Schwierigkeiten zu überwinden gibt und es zu Verzögerungen kommt, gelingt der Plan. 

 

Zu dem Zeitpunkt der Erzählung besteht die Gemeinschaft bereits eine Weile. Der Ich-Erzähler wird dort freundlich aufgenommen. Zum Kennenlernen wird sein Gesicht betastet (später auch der ganze Rest) und erst einmal verständigt man sich mit Deuten und Nicken (die taubblinden Menschen fassen dabei seinen Kopf und seine Hände an). In unserer heutigen Gesellschaft ist die Muttersprache von Taubblinden die Gebärdensprache und die Gegenüber fassen die Hände ihrer Gesprächspartner:in an, um "zuzuhören". Es gibt auch das Lorm-Alphabet, das auch in der Geschichte beschrieben wird, wobei man Buchstaben auf die Handinnenfläche schreibt. Treffenderweise erklärt der Ich-Erzähler, nachdem er eine Weile dort lebt, dass die Sprache dieses Alphabets unzureichend ist, da alles sehr lange dauert und es viel schneller geht und auch genauer, wenn man sich der "Body Language" bedient. Ich las die Geschichte auf Englisch (auf Deutsch heißt die Geschichte "Voraussichten") und meines Wissens lautet die Übersetzung der Gebärdensprache "Sign Language". Die in der Geschichte beschriebene Sprache geht weiter über das hinaus, was ich bisher in dieser Welt an Gebärdensprache beobachtet habe. Die Menschen sprechen mit ihrem gesamten Körper, man fasst sich viel an - und überall, wobei die Taubblinden dem Ich-Erzähler gegenüber vor allem zu Beginn sehr respektvoll sind und ihn deutlich weniger an intime Stellen fassen als sich gegenseitig. Er beschreibt anschaulich, dass es unmöglich sei, mit Body Language zu lügen. 

 

Gleich am ersten Tag begegnet er einem dreizehnjährigen Mädchen. Sie unterhalten sich zunächst mit Body Language. Er ist erschrocken, als er feststellt, dass sie sowohl sehen, als auch hören und sprechen kann. Die Kinder der Taubblinden sind natürlich nicht taubblind und haben sprechen gelernt, bevor sie mit ihren Eltern die Kommune gegründet haben. Das Mädchen ist ihm eine große Hilfe beim Lernen des Alphabets und der Body Language. Nach einiger Zeit sprechen sie nur noch mittels ihrer Körper miteinander. Es heißt über Pink:

 

It dawned on me with a sort of revelation that her word for talk and mine were miles apart. Talk, to her, meant a complex interchange involving all parts of the body. She could read words or emotions in every twitch of my muscles, like a lie detector. Sound, to her, was only a minor part of communication. It was something she used to speak to outsiders. Pink talked with her whole being.

 

Die Geschichte ist irre gut geschrieben. Alleine schon die Beschreibung seines ersten Abendessens in der Gemeinschaft ist die Zeit mehr als wert. Sie essen mit den Händen, sehr langsam, bieten sich gegenseitig Nahrung an, "sprechen" dabei die ganze Zeit, ebenfalls mit den Fingern. Sie beschmieren sich dabei ziemlich, so dass danach alle duschen. Beim Essen sind sie sowieso größtenteils nackt, wobei fast alle die meiste Zeit durchaus Kleidung tragen. Die Unterhaltungen werden rasch sinnlich. Die Geschichte ist durchaus nicht erotisch oder gar pornografisch. Im Laufe seines Aufenthalts hat der Ich-Erzähler intime Beziehungen zu einer Frau namens Scar und zu einer sehr jungen Frau namens Pink. Bei einigen Details dieser sexuellen Beziehungen kann ich nicht mitgehen (siehe unten), kann sie aber im Rahmen dieser Geschichte und Kommune akzeptieren

 

Was er über die Nuancen der Sprache schreibt, kann ich gar nicht wiedergeben, so komplex und faszinierend ist das, bis hin zu einer Sprache, die er "Touch" nennt, die sogar noch über die "Body Language" hinausgeht. Der Fortgang und auch der Schluss der Geschichte ist heftig, aber naheliegend. Die Geschichte wird nachwirken. Ich sage sogar, dass ich sie niemals vergessen werde. Sie ist sehr, sehr beeindruckend. Der Autor hat es geschafft, dass der Ich-Erzähler sich als der Sehende und Hörende als jemanden empfindet, der innerhalb der Gemeinschaft der Behinderte ist, derjenige, der weniger kann, weniger wahrnehmen kann, mit dem tiefen Wunsch, dies zu können und zu lernen. Dasselbe gilt zu einem gewissen Grad auch für die hörenden und sehenden Kinder. Vieles bleibt subtil und nur angedeutet, was ich sehr schätze.

 

Kettlitz schreibt in seiner Zusammenfassung in "Hugo Awards 1953 - 1984", der Ich-Erzähler würde nur wenige Wochen bleiben. Ich habe es so interpretiert, dass er einige Jahre dort ist, aber definitiv länger als ein paar Wochen.

 

Die Novella hat nicht nur den Hugo-Award 179 gewonnen, sondern auch den Nebula. Aus dem wikipedia-Artikel nehme ich mit, dass der Autor mich meine sozialen und moralischen Normen absichtlich hinterfragen lässt. Wer sich spoilern lassen möchte, kann bei wikipedia nachschauen, wobei das Ende hier nicht beschrieben wird.

 

Interessanterweise wird diese Novela fast überall als Science Fiction bezeichnet. Der Autor ist sicherlich ein SF-Autor (der stark von Heinlein beeinflusst wurde), die Geschichte hat nur sehr leichte SF-Elemente, was die Zustände in den USA angeht, die zur Zeit der Erzählung das Land dominieren. Dies spielt allerdings nur eine nebensächliche Rolle. Nun, wenn es denn SF sein soll, dann halte ich sie (bisher) für eine der besten SF-Erzählungen, die ich je gelesen habe. Es ist eine jener seltenen Stories, die mich als Leserin tatsächlich ein Stück verändern. Außerdem eine der wenigen Geschichte, die das Taubblindheit thematisiert. (In dieser Anthologie gibt es eine, "Ich fühle was, das du nicht fühlst", die ist im direkten Vergleich zu dieser dem taubblinden Charakter gegenüber nicht so wahnsinnig respektvoll und auch sonst nicht vergleichbar.)

Harte Fakten

Titel Persistence of Vision 
Autor*in John Varley 
Erscheinungsjahr 1978 
Seitenanzahl 46

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