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Von Zeit zu Zeit von Hans Jürgen Kugler

Inhalt

Ich habe freundlicherweise ein Rezensionsexemplar erhalten und möchte diese Rezension daher als Werbung kennzeichnen. Trotzdem schreibe ich wie gewohnt, was ich über den Roman denke.

 

"Die Welt um mich herum hatte sich aus irgendeinem Grund verlangsamt. Oder ich mich in ihr beschleunigt. Was auf dasselbe hinauslief."

 

Bisher kannte ich von dem Autor nur Kurzgeschichten und der Beginn wirft mich auch sogleich in die Handlung, wie ich es von Kurzgeschichten kenne. Es ist ein sehr schmaler Roman, daher passt es. Der Aufbau ist interessant: Im ersten Kapitel kommt das Ungewöhnliche, der Sense of Wonder. Danach erst erleben wir den Ich-Erzähler, Daniel aus dem Schwarzwald, in seinem Alltag mit seinen Freunden und seiner Arbeit.

 

Der Plot und die Grundidee sind nicht nur sehr interessant, sondern auch gekonnt beschrieben. Die gesamte Welt hat sich verlangsamt aus Sicht des Protagonisten Daniel - er sieht zwar, dass sich die Welt noch bewegt, aber so, als hätte jemand mit der Zeitlupenfunktion zugeschlagen. Und das gilt auch für die Tonspur.

 

Das führt zu einigen bemerkenswerten Szenen, wie dem Aufdrehen eines Wasserhahns und das Wasser kommt so langsam heraus, dass es für den Protagonisten alles andere als flüssig und somit auch nicht benutzbar oder trinkbar ist. Ein Problem, das ihm alsbald zu schaffen macht, wenn er nicht verdursten möchte. Die Dinge verweilen nämlich in ihrer "Eigenzeit" und lassen sich von ihm nicht bewegen, oder jedenfalls nicht in einer Geschwindigkeit, die ihm in seinem Zeiterleben irgendwie nutzt. 

 

Dies bietet auch viele Gefahren und Unannehmlichkeiten, beispielsweise ist es im Schatten kalt, da auch die umliegenden Atome sich deutlich langsamer bewegen.

 

Man sollte außerdem ruhig atmen, da selbst die Luft etwas zäh ist.

 

Wenn sich dann plötzlich alles schneller bewegt und sich somit wieder an den Rest der Welt anpasst, verglühen leider aufgrund der Geschwindigkeit einige Flugtiere. "Wie eine Raumkapsel beim Wiedereintritt in die Atmosphäre".

 

Recht schnell interessiere ich mich für sein Problem und folge ihm bereitwillig in das nächste Kapitel.

 

Im ersten Kapitel frage ich mich durchaus, ob diese Idee wirklich 180 Seiten trägt - aber erstens befindet sich Daniel gar nicht die gesamte Romanzeit über in dieser aus den Fugen geratenen Zeit und zweitens hat der Autor noch einige Ideen aufzubieten, mit denen er nach und nach herausrückt. Man muss sich auf die Geschwindigkeit des Romans einlassen, es gibt durchaus Szenen, die etwas langsamer sind und eher so vor sich hin plätschern. Doch rückblickend haben sie alle ihre Daseinsberechtigung und tragen zur Handlung oder zumindest zum Verständnis der Figuren bei.

 

Gegen Ende des Romans gibt es einige Perspektivwechsel zur Skyguide Area Control in Zürich, da ein Flugzeug stark verlangsamt quasi am Himmel hängt. Das war überraschend. Ich habe das aber mit Interesse verfolgt und so erhalte ich die Chance, die Phänomene noch einmal von einem anderen Standpunkt auszuleuchten. Der Autor hat die Chance genutzt, seinem Roman und der Grundidee so im letzten Viertel noch einiges hinzuzufügen.

 

Die Idee trägt sich tatsächlich bis zu einem recht überraschenden Schluss, der sogar zaghaft eine Erklärung anbietet, sofern man sich darauf einlassen mag.

Figuren

Ein großer Pluspunkt in diesem Roman sind die Figuren. Die fühlen sich einfach alle echt an. Leute aus dem Schwarzwald, alle eher noch jung, aber in der Regel schon in den ersten Stationen des Lebens angekommen. 

Ich-Erzähler Daniel, der Korrektorat für unter anderem Porno-Erzählungen macht und sich dabei meistens unendlich langweilt über die immer gleichen Beschreibungen.

Der Frauenschwarm Tobias, der in einer Ehe angekommen ist, die nicht ganz frei von Spannungen ist.

Iris, die Daniel schon lange kennt und irgendwie in sie verliebt ist - aber gleichzeitig so respektvoll und schüchtern mit ihr umgeht, bei allem, was romantisch ist. Während hingegen ihre Gespräche fast immer diese Tiefe haben, die man vor allem mit sehr alten Freunden rasch erreicht, auch nach langen Pausen wieder.

Auch Tobias' Ehefrau Laura erhält im Showdown des Romans noch einiges an wichtiger Szenenzeit und erhält als Physikerin am CERN auch Gelegenheit, Informationen für Tobias und auch für uns Leser:innen hinzuzufügen.

 

Vieles davon erkenne ich wieder, und der Autor nimmt sich die Zeit, die Szenen und Dialoge mit lebensechten Details auszuschmücken, bis hin zu dem verstorbenen Alkoholiker der Clique, Timo, der einst Daniels Rasierwasser getrunken hat. 

 

Der Roman kommt insgesamt mit angenehm wenigen Figuren aus, so dass es einfach ist, sich zu orientieren und auch die Identifizierung, vor allem mit Iris und Daniel, gelingt mir leicht.

 

Beim Lesen habe ich das Gefühl, dass der Autor seine Figuren mit viel Sorgfalt behandelt, außerdem sind es Figuren, denen ich gerne folge. Natürlich nicht frei von Macken, aber insgesamt aufrechte, sympathische Leute, mit denen auch ich gern mal einen Kaffee trinken würde. Wenn ich solchen Figuren in einem Roman begegne, fühle auch ich als Leserin mich respektiert und wertgeschätzt. Von diesem Autor würde ich jederzeit wieder einen Roman lesen.

Besondere Textstellen

Der Autor hat es extrem gut drauf, Dinge sehr plastisch und gut zu beschreiben. Und es handelt sich hier meist um Dinge, die noch nie woanders beschrieben worden sind - zumindest ich habe noch nie Szenen gelesen, in denen alles extrem langsam abläuft.  Wie er die Tücken der Welt beschreibt, das Gras, das dank der Langsamkeit nun scharf und gefährlich ist, das Wasser auf dem See, das zwar "belaufbar" ist, aber wenn man zu lange stehen bleibt, sinkt man langsam ein und kommt nicht mehr heraus - das sind alles Szenen, die in Erinnerung bleiben.

 

Ebenso gelungen, wie der Autor die Gefahren schildert, Hunger und Durst und später dann hierfür plausible Lösungen anbietet. Das war ein großer Lesespaß.

 

Einzig das Phrasenschwein wurde doch sehr arg gefüllt für meinen Geschmack, es gab viele Wendungen (auch nicht nur in wörtlicher Rede), die ich schon ein wenig zu oft gehört bzw. gelesen habe.

 

Die Details sind bemerkenswert, hier ein Beispiel:

 

"An manchen Stellen hing eine Menge Flugsamen in der Luft, ich hatte Mühe, dem Zeug auszuweichen, denn die Dinger waren von einer zähen, gummiartigen Konsistenz und ließen sich nicht so einfach zur Seite schieben."

 

Witzig fand ich, wie Daniel seine Arbeit beschreibt. Er arbeitet als Korrekturleser und muss sehr häufig Pornos lesen. Das langweilt ihn, weil es sich arg wiederholt und selten hohe Literatur ist. Ich fand das sehr überzeugend. Erst recht sein Lästern über erotische Vampir-Romane. Zum Glück muss ich so etwas nicht lesen.

 

Diese Beschreibung empfinde ich ebenfalls als sehr gelungen:

 

"Die obere Hälfte der Seifenblase hing noch ein paar Sekunden wie eine schillernde Qualle in der Luft und verteilte sich dann in einem funkelnden Schauer winziger Tröpfchen, der als schimmernder Staubnebel noch eine ganze Weile in der Luft hing."

 

Wie anders die Dinge doch wirken, wenn sie nur langsam genug sind.

 

Auch an Gedanken, die mit SF gar nichts zu tun haben, bietet uns der Autor einige Dinge an, die im Kopf bleiben. So zum Beispiel das Kinderkriegen. An einer Stelle überlegt Daniel, warum seine Eltern (und die Eltern seiner Freund:innen) Kinder bekommen haben.

"Man schaffte sich halt Kinder an, weil es von einem erwartet wurde"

Deprimierend. Aber wenn ich an meine eigene Kindheit denke, vielleicht nicht völlig abwegig.

 

Einprägsam auch die Stelle, an der Daniel und Iris entdecken, dass man das Areal, in dem die Zeit verlangsamt ist, nicht einfach verlassen können. Und das, obwohl sie die Grenze finden. Aber sie finden an ebenjener Grenze eben auch einen Wanderer, der zum Zeitpunkt des Auftretens der Verlangsamung genau an der Grenze wanderte und was diesem geschah, ist nicht sehr ermutigend.

 

Eine letzte Frage blieb für mich offen: Ist die Nebenfigur Herbert W. Frankenfeldt eine Hommage an Herbert W. Franke?

Buchaussage

Bei der Prämisse und der A- und B-Story merke ich dann doch, dass die Buchaussage nicht so ganz auf der Hand liegt. Die A-Story ist natürlich, wie Daniel mit seinem Erlebnis und dann der Wiederholung des Erlebnisses umgeht. Wie meistert er die Schwierigkeiten, wie überlebt er?

Dahinter steckt, vor allem im Erleben gemeinsam mit Iris, aber auch eine Menge über ihn selbst und sein Leben. Wird er sich auf Iris als Menschen und ggf. als Partnerin einlassen? Was hindert ihn daran, eine Beziehung einzugehen? Angst? Schüchternheit? So lese ich jedenfalls die B-Story. 

Beide Stories haben einen klaren Abschluss, was ich sehr begrüße.

 

Die Prämisse geht dann vermutlich in die Richtung: Was fängst du mit deiner Lebenszeit an. Bzw., da ich mich nun bei der Frageform eher ein wenig darum herummogele: Du hast nur deine Eigenzeit. Mach etwas draus, das für dich passt. 

 

Je länger ich darüber nachdenke, desto vielschichtiger und besser gefällt mir der Roman. Bis nächste Woche ist mir vermutlich noch mehr dazu eingefallen.

Wie bin ich zu dem Buch gekommen?

Ich habe mir vorgenommen, möglichst viele in diesem Jahr erschienene deutschsprachige Science Fiction zu lesen, außerdem erhalte ich vom Verlag p.machinery in der Regel Rezensionsexemplare. Plus, ich kenne einige Kurzgeschichten des Autors und war daran interessiert, wie mal ein ganzer Roman von ihm ist. Fazit: Der Roman hat mir sogar besser gefallen als das, was ich bisher an Kurzgeschichten von ihm gelesen habe (mehr als zwei oder drei dürften das auch nicht sein, eher aus den letzten beiden Jahren).

Rezeption

Marianne Labisch hat bereits im Fantasyguide eine Rezension hinterlassen. Sie hat fünf von fünf Sternen gegeben und war mit dem Roman überaus zufrieden, auch mit dem Ende.

 

Auf diezukunft.de gibt es ebenfalls eine Rezension, von Bernd Kronsbein, die zwar eher kurz, aber auch positiv ist.

 

Bei Lovelybooks gab es auch schon zweimal fünf Sterne.

Über die Autor:in

Den Autor kannte ich bisher hauptsächlich von der Exodus, das war nun mein erster Roman von ihm und sicherlich nicht mein letzter. 

Harte Fakten

Titel Von Zeit zu Zeit 
geschrieben von Hans Jürgen Kugler 
Verlag p.machinery 
Rezensionsexemplar ja, vielen Dank dafür 
Erscheinungsjahr 2021 
Seitenzahl 182 
Original Twitter Tweet https://twitter.com/Rezensionsnerd1/status/1456501383474069506 

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