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Blaue Frau von Antje Rávik Strubel

Inhalt

Da ich den Roman als Rezensionsexemplar erhalten habe, muss ich diesen Artikel als Werbung kennzeichnen. Das hält mich natürlich nicht davon ab, meine ehrliche Meinung zu sagen.

 

Zunächst einmal finde ich es nicht verwerflich, acht Jahre für einen Roman zu brauchen. Ich freue mich zwar sehr, dass Stephen King offenbar einmal im Jahr einen schafft, aber lese auch Paul Auster gern (oder, früher, Thomas Harris, der auch gern Jahre zwischen Veröffentlichungen verstreichen ließ) und bedaure sehr, dass Auster nicht häufiger Romane schreibt.

 

Insgesamt schätze ich es aber sehr, wenn ein Text seine Zeit bekommen hat, das trägt nicht selten zur Qualität bei. Hier hätte ich noch eine Handvoll Einwände, aber dazu später.

 

Es hat bei diesem Roman wenig Zweck, eine spoilerfreie Rezension zu verfassen. Da es sich aber auch nicht um eine Geschichte handelt, bei der man sich ärgert, wenn man vorher zu viel über den Plot weiß (im Gegenteil, es hilft sogar, wenn man vorher ein paar Hinweise hat), werde ich also hemmungslos spoilern. Allerdings spoilert auch jeder zweite Artikel zu dem Buch, so dass ich damit nicht alleine stehe.

 

Ich wusste vorher nur, dass die Protagonistin sexuelle Gewalt erfahren hat (oder erfährt). Mehr nicht. Nach circa achtzig Seiten habe ich dann doch mal den Klappentext, einige Rezensionen und Interviews gelesen, da mir so gar nicht klar war, worauf der Roman abzielt. Das hat dann doch geholfen. 

 

Er bietet doch einige interessante Szenen, doch habe ich einfach keine klare rote Linie gesehen und war mir nicht sicher, ob es eine gibt. Teil 2 (beginnt nach circa einem Drittel) war da schon klarer und auch die Hintergründe des Romans zu lesen, hat mir dann beim Genuss des Romans geholfen. 

 

Es handelt sich hier eben nicht um einen Roman, wie ich ihn normalerweise lese. Mit klarem Beginn, einem Plot, Situationen, Konflikten, Lösungen. Es gibt auch hier einen Konflikt, aber es dauert, bis dieser klar wird.

 

Die Protagonistin läuft unter drei Vornamen (um es uns noch ein wenig einfacher zu machen, Ironie off): Adina, Sala und Nina. Adina Schejbal ist ihr bürgerlicher Name. Ihr Freund in Helsinki, Leonidas aus Estland, nennt sie jedoch Sala. 

Es ist Razvan Stein, der sie später Nina nennt, "der Einfachheit halber, weil er ihren richtigen Namen nicht im Gedächtnis behielt" (finde nur ich das respektlos?)

Ebenfalls finde ich es nicht in Ordnung, dass sie von einer anderen Figur, Johann Manfred Bengel. später einfach immer als "Nina aus Russland" läuft, obwohl sie noch nie in Russland war. Zu Russland und dem Fetisch für Russland könnte ich noch mehr schreiben, würde mich dann aber womöglich in Details verlaufen. Ich fand diesen Aspekt in dem Roman einen der interessantesten und verwickeltesten.

 

In Teil 1 ist Adina in Helsinki und wohnt in einem Plattenbau. Ich spüre beim Lesen, dass irgendetwas seltsam ist, als sei ihr Leben auf Pause gedrückt. Sie bietet mir in einigen Szenen bemerkenswerte Details und außerdem viele nachvollziehbare Anekdoten über Estland und Finnland.

 

Um mal ein Beispiel zu nennen: Adina und Leonides befinden sich in Finnland. Die Einheimischen tragen Gummistiefel und ziehen diese an der Tür einfach aus und wechseln in bequeme Schuhe, die sie im Rucksack dabeihaben, wenn sie ein Restaurant betreten. Das als Wissen vorausgesetzt, werden wenige Sätze später Adina und Leonides beschrieben, die im Café sitzen, "zwei Ausländer, die an ihren durchweichten Schuhen zu erkennen waren".

 

Es hilft mir beim Lesen sehr, dass ich 2012 Helsinki, Tallinn und Tartu besucht habe. Adina ist Tschechin und hat zwischendurch in Berlin gelebt.

Ihre Berliner Zeit kommt erst in Teil 2 und in Berlin geschieht es dann auch, das, was ihr Leben vorläufig auf Pause stellt. 

 

Wer ist die Blaue Frau in den Zwischenkapiteln?

Damit konnte ich zunächst gar nichts anfangen. Eine Ich-Erzählerin trifft auf die Blaue Frau, die Episoden sind meist kurz und sagen mir nichts. Erst nach circa einem Drittel kommt ein entscheidender Hinweis, der mir eine Idee davon gibt, was das alles soll. Nun, das kann ich wertschätzen, auch wenn ich persönlich dieses Durchbrechen der vierten Wand nicht gebraucht hätte. 

Auf Seite 142 meine ich, eine Auflösung gefunden zu haben. "Ich erwähne das Verlustgefühl, das mich manchmal überfallt. In jedem meiner Bücher gab es Figuren, die ich liebgewonnen hatte." Hier outet sich die Ich-Erzählerin der Zwischenkapitel als Autorin. Die Autorin dieses Romans? Möglicherweise ist die Blaue Frau eine Romanfigur. Die Hauptperson dieses Romans sogar?

 

Was mir vor allem am ersten Teil, und auch noch ein wenig am zweiten, gefallen hat, war die Verstrickung mit der europäischen Geschichte, vor allem der osteuropäischen Länder wie Tschechien, Estland und Russland. Zumal ich bisher wenig gelesen habe, das die estnische Kultur oder Geschichte thematisiert. Ich hätte Lust gehabt, mehr über Estland zu erfahren.  

Sprache und Art des Erzählens

Es ist wirklich seltsam, die Autorin scheint bewusst einige ungeschriebene (oder auch geschriebene) Regeln der guten Prosa zu brechen. Im Englischen geschieht es recht oft, dass Sätze mit dem Subjekt beginnen, oft auch mit demselben. Die englische Sprache ist weniger flexibel als unsere, da lässt es sich nur schwer verhindern. Aber das Deutsche birgt so viele Möglichkeiten - dennoch beginnen hier wahnsinnig viele Sätze einfach mit dem Subjekt, meist mit "Sie", einmal sogar viermal hintereinander. Das kann ja nur Absicht sein. Welchen Effekt hat das auch mich? Darüber muss ich mal länger nachdenken. So kann ich nur sagen: Ich bemerke es.

 

Ebenso Wortwiederholungen. Hier hat man keine Angst vor Wortwiederholungen. Ist auch das Absicht? Und wenn ja, mit welchem Ziel?

 

Hier ein Beispiel:

 

"Jede Nacht sind Autos zu hören. Das Rauschen der Autos auf den dreispurigen Straßen und das Rascheln der Blätter am Vogelbeerbaum." (Hervorhebung durch mich)

 

Plus, außerdem werden "Rauschen" und "Rascheln" - beides tolle Verben - als Substantive benutzt. Das mag typisch deutsch sein, nimmt aber dem Text irgendwie die Fahrt.

 

Dann gibt es aber auch tolle Sätze, die vor Leben nur so zittern:

 

"Peitschenlampen säumen die Wege."

 

oder auch:

 

"Das Morgenlicht ist blass im Spiegel des Kleiderschranks"

 

"Niemand ist vorübergehend tot."

 

"Sie trank nicht wie jemand, der Durst hat. Sie trank, wie eine Ertrinkende Wasser schluckt."

 

oder auch, eine klare Anspielung auf Alice im Wunderland:

 

"Weil du eine Welt witterst, in der das Grinsen ohne die Katze herumlungert"

 

"Der Egoismus nimmt mit dem Alter zu. Die Freude daran nimmt allerdings ab."

 

Ein Satz, der Sexismus klar und kreativ thematisiert:

 

"Laut Statistik gibt es unter deutschen CEOs mehr Männer mit dem Vornamen Thomas als Frauen."

 

Was mich tief beeindruckt hat, ist die Beschreibung der Hauptfigur dazu, wie sie es wahrnimmt, in einer Sprache zu kommunizieren, die nicht ihre Muttersprache ist. Diese Passage hätte ich ewig feiern können:

 

"Sie sprachen Englisch miteinander. Englisch war weder ihre noch seine Muttersprache. Sie mussten beide die fremde Sprache im Kopf in die eigene umwandeln, er ins Estnische, sie ins Tschechische, wodurch ihr Gespräch von einem leichten Zögern bestimmt war. Sie hatte den Eindruck, dass alles, was er sagte, eine Färbung hatte, die für sie unzugänglich blieb. Und auch für ihn musste der Untergrund ihrer Worte im Dunkeln liegen."

 

Es gibt noch eine weitere Stelle aus einem anderen Lebensabschnitt von Adina (jünger, in Deutschland). 

 

"Sie hatte sich verheddert. Die deutschen Worte fügten sich nicht. Statt zu sagen, was sie wollte, sagte sie das Wenige, was sie zu sagen vermochte, was aber mehr der Logik der fremden Sprache als ihren Gedanken zu folgen schien."

 

Ebenfalls ein sehr schönes Detail, als die Hauptfigur im Begriff ist, die Pille danach einzuwerfen und dann auf ihrer Klappliege sitzt, "im Begriff, Medizin einzunehmen, obwohl sie gar nicht krank war." Da steckt so viel darüber drin, wie sehr man die schlechteste Karte haben kann, wenn man eine Frau ist. Einfach herrlich subtil geschildert, mit viel Raum für mich als Leserin, das mit Bedeutung, Leben und meinen eigenen Erfahrungen zu füllen.

 

Es gibt eine Szene, in der Adina Geld braucht. Sie weiß, dass Leonides' Geldscheine immer als Lesezeichen für gute Textstellen benutzt. Daher nimmt sie einige Scheine mit. "Es hatte ihr leid getan, die Scheine herauszunehmen, aber nicht wegen des Geldes."

(Später stellt sich heraus, es waren immerhin 500 Euro)

 

Sehr hart sind die Szenen, in denen Adina sich die Befragung zur sexuellen Gewalt vorstellt. 

"Und als er dein Gesicht auf die Ledernoppen presste, weil du versucht hast zu schreien, hast du da in seine Hand gebissen? Warum nicht? Kam es zur Penetration? Wieso hat er gelacht?"

Die Tat an sich wird nicht noch näher beschrieben, aber durchaus das Einsperren in den Kühlschrank danach, und dies sehr eindringlich.

 

Interessant und auch erschreckend fand ich, dass laut des Romans in Deutschland nur fünf Prozent aller Sexualstraftaten angezeigt werden. In Skandinavien fünfzig Prozent. Das liegt daran, dass in Deutschland nur zehn Prozent der Anzeigen auch zu einer Verurteilung führen. Da kann man sich ja mal ausrechnen, wie hoch die Chancen stehen, mit so etwas ungestraft davonzukommen. 

Buchaussage

Wenn sie vor acht Jahren begonnen hat, dann war das ja noch vor "#Metoo". Diese Aktion kam ja sozusagen nur zufällig zwischendurch für sie, das Thema des Romans muss ja vorher schon festgestanden haben.

 

Ein wenig erinnert mich tatsächlich dieser Roman an Schlachthof 5, trotz all der Unterschiede. Vonnegut wollte über Kriegsgefangenschaft schreiben und hat lange gebraucht, bis er dafür einen Rahmen gefunden hat. Er war hier selber betroffen. Strubel wollte über sexuelle Gewalt schreiben, ob sie selber betroffen ist, ist mir nicht bekannt (die Interviews legen nahe, dass nicht).

 

Sowohl Strubel als auch Vonnegut haben lange gebraucht, beide haben letztendlich eine Form gefunden, beide eine vielleicht etwas seltsame Art (gut, Vonnegut war seltsamer). Bei Vonnegut bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es womöglich die einzige Art war, darüber zu schreiben. Leicht zu lesen ist keine der Romane. Strubel liest sich dann sogar etwas einfacher, da es keine phantastischen Komponenten gibt und die Zeitlinie klar ausgeschildert ist - wenn auch nicht chronologisch erzählt wird.

 

Der Mythos der lügenden Frau. Die Frustration, das Warten, das Nicht-Anzeigen eines Gewaltakts, das Verstreichenlassen von Monaten und gar Jahren. Das ist alles Thema. Da hat sich jemand wirklich Gedanken darüber gemacht. Die Autorin hat sich dem Thema auf eine zwar komplexe, aber lesbare Art genähert, die ich durchaus zu schätzen weiß.

Rezeption

Dank des Kaffeehaussitzers habe ich gleich ein paar Best-Of-Rezensionen gefunden und gelesen.

 

Von Letteratura: Interessanterweise interpretiert die Rezensentin die Ich-Erzählerin in den Szenen mit der Blauen Frau auch als der Autorin nah (sie schreibt, diese habe "Ähnlichkeit mit der Autorin"). Hier wird auch benannt, was den Roman so schwer zu lesen macht, es bleibt vieles "diffus" und "unkonkret", eben gar nicht so, wie ich es sonst beim Lesen gewohnt bin. Fazit hier ist Begeisterung, der Roman stellt für die Rezensentin sogar ein Highlight des Jahres dar.

 

Vom Blog Buch-Haltung: Die Rezension beschreibt klar die Ebenen des Romans, die Geschichte der Hauptfigur Adina, aber auch die politische Dimension bezüglich Ost- und Westeuropa. Hier erfahre ich auch einen interessanten Hintergrund: Die Autorin hat bei der Recherche Fälle von vergewaltigten Frauen untersucht und war schließlich so "aufgebracht und emotionalisiert", dass sie die Arbeit an ihrem Roman für eineinhalb Jahre unterbrochen hat.

 

Vom Blog Aufklappen: Hier wird die beklemmende Atmosphäre festgehalten, die auch ich beim Lesen empfunden habe, vor allem anfangs. Ich bin ein wenig erleichtert, dass hier der Schluss als "überhastet" beschrieben wird, auch ich war verblüfft, als es plötzlich vorbei war. Ich hatte ebenfalls das Gefühl, noch lose Enden zu sehen, dachte aber, ich hätte womöglich unaufmerksam gelesen - schließlich ist der Roman auch nicht ganz einfach.

 

Im Zuge dessen habe ich auch das von ihm erwähnte Interview mit Nicola Steiner gelesen.

Diversität

 

Das ist sehr komplex. Die Hauptperson bezeichnet sich an mindestens einer Stelle als "keine Frau", sondern als "kleiner Mohikaner". Ich habe das mit dem kleinen Mohikaner aber nicht komplett durchblickt und lasse das lieber einfach so stehen.

Außerdem meine ich, leicht homoerotischen Subtext aus einigen Begegnungen mit Frauen herausgelesen zu haben.

Plus, die Herkunft von Adina spielt oft eine große Rolle - und dann wird ihr im Mittelteil auch noch ständig unterstellt, sie käme aus Russland statt aus Tschechien. Was ist das? Mis-Country-ing (analog zu Misgendern?)

Harte Fakten

Titel Blaue Frau 
geschrieben von Antje Rávik Strubel 
Verlag Fischer E-Books 
Rezensionsexemplar ja, vielen Dank dafür 
Erscheinungsjahr 2021 
Seitenzahl 420 
Original Twitter Tweet https://twitter.com/Rezensionsnerd1/status/1458782640467763205 

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