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AURA von Bernhard Kempen

Inhalt

Danke für das Rezensionsexemplar!

 

Das war ein Gedankenkarussell, als ich das Ebook erhielt:

  • Bernhard Kempen, das ist doch dieser Übersetzer, der sich immer total viel Gedanken macht, wenn es divers wird (wie bei Annie Leckies Die Maschinen).
  • Bernhard Kempen, heißt der nicht auch manchmal Barbara?
  • Seine Essays sind toll.
  • Au Backe, warte mal, ist das nicht diese SF-Reihe, die auf dem Planeten spielt, auf dem sie nur nackt herumlaufen und die ganze Zeit pimpern?

Ja. Alles richtig. Ich entschied mich, den Roman trotzdem zu lesen, und zwar ohne weitere Vorkenntnisse. Schließlich wollte ich auch wissen, ob der Roman für sich alleine stehen kann. Normalerweise fange ich immer mit Teil 1 an, immer, da bin ich ein Monk, aber mein SuB lässt das zurzeit einfach nicht zu. Das hier ist übrigens Band 3.

 

Also, kurze Antwort: Ja, der Roman kann für sich alleine stehen. Wenn Bezug auf frühere Ereignisse genommen wird (Stichwort: Das Raumschiff hatte wohl eine "schwierige Episode"), wird das kurz angerissen, so dass sich auch Lesende ohne Vorkenntnisse zurechtfinden. Es wird auch sehr schnell klar, dass der Ich-Erzähler Adrian nicht von dort und eigentlich nur Reporter ist und auch noch immer Schwierigkeiten damit hat, sich zu akklimatisieren. Das ist auch angenehm für mich, denn auch ich habe Anpassungsschwierigkeiten. Überall nackte Brüste und Popos! 

 

Im ersten Drittel bin ich nur gefolgt, weil es irre gut geschrieben ist und eine Menge Humor zwischen den Zeilen mitschwingt. Die Sexszenen sind zwar vorhanden, aber werden keineswegs zu sehr ausgeschmückt oder werden durch Beschreibungen, die Lesende nicht nötig hätten (wir wissen ja ungefähr, wie es geht) langweilig. Ich hatte sogar mal kurz den Gedanken, dass die Leute eigentlich immer nur Quickies haben. Zumindest gelesen sind diese Szenen schnell und beschränken sich auf das, was daran originell oder erzählenswert ist.

 

Aber es geht in dem Roman nicht um Sex. Es geht um Kultur, um Erstkontakt und vor allem: Um Akzeptanz und die Überwindung von Missverständnissen via Kommunikation.

Und in einer Art C-Story nimmt der Roman noch die Lesenden auf's Korn, die vermutlich fast immer prüder sind als die Leute auf Arkadia und vermutlich nicht selten auch deutlich verklemmter als Adrian. 

 

Adrian ist ein sehr sympathischer Ich-Erzähler, und das, obwohl ich wahrlich nicht viel über ihn erfahre. (Ich begrüße hier übrigens das Fehlen von Infodump, ich werde einfach in die Geschichte geschmissen und das macht mir Spaß.)

Menschen bewohnen schon seit rund sechzig Jahren den Planeten Arkadia. Die Bevölkerung müsste laut meinen Recherchen bei 100.000 liegen (steht im Text auf Seite 12). Mehr über das Sonnensystem Aura findet sich übrigens auf der letzten Seite des Romans, auch in visueller Form. Fand ich sehr schick (und meine Tochter auch, fremde Planeten!). Adrian, der Reporter, ist seit deutlich kürzerer Zeit dort und hat es noch nicht geschafft, seine Kleidung abzulegen. Alle anderen laufen die meiste Zeit nackt herum, es sei denn, es gibt einen zwingenden Grund für Kleidung (Arztkittel, aber darunter trägt man dann auch nichts). Da Adrian damit ständig hadert, muss ich das beim Lesen nicht und kann Spaß haben.

 

Dann bricht aber eine Art Seuche aus, Quarantäne droht. Doch es gibt zum Glück ja Greedy, die bemerkenswerte Fähigkeiten hat und mithilfe ihres Körpers auch Präparate zur Immunisierung herstellen kann und ein Kuss von ihr wirkt dann immunisierend. Das war etwas schräg, zugegeben, und einige Beschreibungen auch bezüglich ihrer Methoden haben meine Augenbrauen schon fast unter meinem Haaransatz verschwinden lassen. Konkret: Ihre Vagina wird als "sehr individuelles Biolabor" bezeichnet. Will ich das auch können? Wenn ich mir so anschaue, was sie im Laufe des Romans so alles kann, sie ist ja quasi eine Allround-Heilerin, tendiere ich zu Ja, trotz all der Schrägheit.

 

Beim Lesen über Sex ist mir schon immer wichtig, dass alle teilnehmenden Parteien ihr Einverständnis signalisieren. Bei einigen (wenigen, ich glaube zwei) Szenen war ich mir da zunächst nicht ganz sicher, beides löste sich aber später auf. In einem Fall bespricht sich Adrian später mit Ang und er formuliert ihr gegenüber ganz klar, dass er "die ganze Zeit das Gefühl hatte, jederzeit wieder aussteigen zu können". 

Die teilnehmenden Parteien begegnen einander stets mit Respekt und Wertschätzung und obwohl stets recht klar benannt wird, dass Anziehung und Erregung eine große Rolle spielt, bleibt eine Figur nie reines Sexobjekt. Das soll ihm erst einmal jemand nachmachen. 

 

Dank Greedy bekommen sie zwar die Seuche in den Griff, aber dann wird auch der Beton davon angegriffen. Schließlich wird klar - und hier komme ich ohne leichte Spoiler nicht weiter - dass ein intelligentes Pflanzenkollektiv dahinter steckt, das auf die Eindringlinge reagiert. Zwar mit sechzig Jahren Verspätung, aber wir wissen ja spätestens seit Baumbart, dass Pflanzen langsamer sind als Menschen. 

 

Weiter möchte ich den Inhalt nun nicht spoilern, war aber von einigen Ideen sehr beeindruckt. Vor allem, was die Bedeutung von Sex als Kommunikationsmittel betrifft. Das Thema habe ich zuletzt bei einer Kurzgeschichte von John Varley (Persistence of Vision) derart beeindruckend (aber total anders) gelesen. Überhaupt, für mich geht es in dem gesamten Roman um Kommunikation. Überwindung von Missverständnissen. Brücken bauen mittels Kommunikation (und sei es eben Sex). Das hat mich dazu gebracht, ganz speziell über Sex als Kommunikationsmittel nachzudenken und ich bin mit dem Gedankengang längst nicht fertig. 

 

Letztendlich ist auch (auch) eine Erstkontakt-Geschichte und zwar eine sehr originelle. Und gut erzählt!

 

Das Ende ist zwar abgeschlossen, lässt aber weitere Teile offen. Na gern, ich bin dabei! 

Art zu erzählen

Die Erzählstimme klingt authentisch, alles ist sehr flüssig. Er durchbricht gern mal die vierte Wand ("Falls Sie meine früheren Berichte über Arkadia verfolgt haben ..."), aber nicht zu oft.

 

Es ist teilweise sehr dialoglastig, was stets charakterisiert und die Handlung voranbringt.

Romanfiguren

Die vier Figuren, die mir besonders in Erinnerung bleiben sind der Erzähler Adrian, Greedy, Ang (die bisexuelle und polysexuelle Ärztin in fester und langjähriger Beziehung) und die Kollektivintelligenz. Ein wenig neugierig bin ich auf das schräge Raumschiff, das hat offenbar in Teil 1 oder 2 eine größere Rolle gespielt. 

Buchaussage

Die A-Story ist für mich, das Problem mit dem Pflanzenkollektiv mittels Kommunikation zu lösen. 

 

In der B-Story sehe ich eher eine Art Botschaft an die Lesenden, oder vielmehr, Gedankenanstöße: Lassen wir uns immer auf Kommunikation ein? Geben wir uns Mühe, Missverständnisse zu beseitigen? (Wenn ich mir die Welt so anschaue: Nein.)

 

Prämisse: Respektvolle, ernst gemeinte Kommunikation löst Probleme

 

Und, als eine Art C-Story sehe ich noch das Akklimatisieren an fremde Kulturen oder soziale Gefüge. Ein bisschen ist der Roman auch ein Spiegel für mich selber: Wie prüde und verklemmt bin ich eigentlich? Plus, inwieweit nutze auch ich Sex als Kommunikation? Aber das geht jetzt weit über eine einfache Rezension hinaus. 

Richtig gute Stellen

Es ist gut und flüssig und vor allem  unterhaltsam geschrieben. Es gibt einige Gedanken und Passagen, die ich extrem gelungen finde und die man sich ruhig mal eine Weile über den Schreibtisch kleben kann.

"Ich bin zu einer Pflanze geworden!

Dieser Zustand widerspricht all meinen menschlichen Wünschen und Bedürfnissen, aber die Sache fühlt sich dennoch äußerst angenehm an. Die Sonne versorgt mich mit Energie, und meine Wurzeln ziehen würzige Mineralien aus dem Boden. Ich habe alles, was ich zum Leben brauche. Wozu sollte ich herumlaufen und irgendwelche Dinge tun?"

Vergiss den Kater! Sei ein Baum. Grins. Toll!

 

Ich jammere ja viel über Phrasen, hier wurden einige Phrasen mal richtig gekonnt eingesetzt. Und dafür gibt es nicht viele Beispiele (mir fällt nur ein, dass Pinocchio bei Once Upon a Time mal gesagt hat: "Ich bin aus einem anderen Holz geschnitzt"). 

Bei dem Erzähler färben sich irgendwann die Haare moosgrün und er wird gefragt, wie es ihm geht, worauf er antwortet: "Ich könnte auch sagen: alles im grünen Bereich".

 

Und, es ist doch kein Zufall, dass eines der Paare Barbie und Ken heißt? 

Vergleich mit anderer Prosa

In der Anthologie Unsere Freunde von E Eridanus gab es eine Kurzgeschichte von Uwe Herrmann, "Die Fremden", die aus der Sicht eines Baumes geschildert wurden. Da wurde sehr klar, wie schnell wir Menschen im direkten Vergleich mit Bäumen sind.

 

Aufgrund des Themas Sex als Kommunikation habe ich viel an Varleys Persistence of Vision von 1978 gedacht, auch das Nacktsein in einer Community und als Fremder dort hineinzukommen, ist eine Parallele. Die Geschichten unterscheiden sich ansonsten zwar sehr.

 

Und natürlich bleiben einige Gedanken an Baumbart aus Herr der Ringe nicht ganz aus.

Rezeption

Zumindest eine Rezension habe ich dank der Facebookseite des Autors bereits gefunden. Auf phantastiknews.de

 

Marianne Labisch hat mittlerweile auch gelesen und rezensiert und war ein bisschen weniger begeistert. 

Über die Autor:in

Ich kannte bisher von Bernhard Kempen nur Essays und Übersetzungen, das wird aber sicher nicht die letzte Prosa sein, die ich von ihm lese.

Diversität

 

Eine Menge. Ich meine, herausgelesen zu haben, dass nicht alle weiß sind. Greedys Hautfarbe wird als "Braun" bezeichnet, es kann aber natürlich auch Sonnenbräume sein.

Hetero sind sowieso nicht alle. Dazu gibt es polysexuelle Personen (wie Ang), was sich ja auch in dieser Kultur anbietet. Ich fand auch den kurzen Ausflug des Nachwuchses mittels zwei Eizellen nett, wenn das auch natürlich nicht neu ist. 

Harte Fakten

Titel AURA 
geschrieben von Bernhard Kempen 
Verlag p.machinery 
Rezensionsexemplar ja, danke dafür 
Erscheinungsjahr 2022 
Seitenzahl 139 
Original Twitter Tweet https://twitter.com/Rezensionsnerd1/status/1519595692787916800 
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