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Blutbuch von Kim de l'Horizon (deutscher Buchpreis 2022)

Inhalt

Im letzten Jahr habe ich die blaue Frau gelesen, deutlich außerhalb meiner Komfortzone, hatte was. Im Gegensatz zum Blutbuch war die blaue Frau rückblickend fast normal, auf jeden Fall deutlich konventioneller. 

 

Ich empfehle auch das Lesen dieses Buchs nicht unbedingt weiter (dazu polarisiert es zu sehr), ich bin nur persönlich froh, dass ich es gewagt habe, auch wenn die Lektüre nicht immer leicht und ganz sicher nicht immer schön war.

 

Bei dem Preis von 19,99 Euro für das Ebook habe ich auch überlegt, ob ich ein Rezensionsexemplar anfragen sollte, aber dann hätte ich ja rezensieren MÜSSEN und das wollte ich nicht riskieren. Nun rezensiere ich quasi freiwillig. 

Roman

Es gibt viel Kritik zu dem Roman und nicht alles davon ist Unfug, die Menschen fühlen sich in ihrer Komfortzone verletzt. Wobei - mich wundert das: Niemand MUSS doch diesen Roman lesen, nur weil er den Buchpreis gewonnen hat, oder?

Und dass der Roman derart viel Aufmerksamkeit bekommt, finde ich ganz sicher nicht schlecht. Was man auch dagegen sagen mag, Kim hat ganz schön die Hosen heruntergelassen. Ein sehr persönlicher Roman.

 

Das erzählende Ich im Roman kann ich vermutlich nicht komplett mit der Person Kim de l'Horizon gleichsetzen, es liegt aber nahe, auf viel Ähnlichkeit zu schließen. Nicht zuletzt, weil auch im Roman angedeutet wird, dass das erzählende Ich (das ebenfalls Kim heißt) zunächst nur für sich schreibt und dann aus dem Freundeskreis angeregt wird, das doch zu veröffentlichen.

In diesem Artikel wird die Person im Buch autobiographisch genannt, dann wage ich das mal auch. 

Offenbar wurde der Text auch sehr authentisch gelassen. Damit meine ich, dass ich es für möglich halte, dass nicht sehr viel eingegriffen wurde in Sprache und Stil. Sicher wäre (oder war) das auch nicht einfach zu lektorieren und einiges ist auch Absicht (jemensch statt jemand), aber vieles ist sicher auch unabsichtlich geschehen wie massiv viele Wortwiederholungen, die auf mangelnde Überarbeitung oder ein sehr lockeres Lektorat schließen lassen. 

 

Der Roman ist entgendert verfasst und zwar mit Sternchen* und das passt hier auch, denn hier wollte man auf die Nonbinarität hinweisen, sie hervorheben und daher wäre ein angenehm lesbarer entgenderter Stil wie bei Laylayland nicht das richtige gewesen.

 

Falls man irgendwo liest, es ginge hauptsächlich um einen jungen Menschen, der in Berlin echt viel Sex hat, ist das nur ein kleiner Teil des Buchs, wenn dieser auch womöglich am nachhaltigsten im Gedächtnis bleibt. Das erzählende Ich steht auf Männer und hält sich lange für schwul, ist aber ein nonbinärer Mensch.  Denn:

"Und ich war ja auch tatsächlich nie schwul, weil Schwulsein geht ja nur, wenn mensch daran glaubt, dass es zwei Geschlechter gibt und das mensch auf dasselbe Geschlecht steht; und dieses Schauermärchen von bloss zwei Geschlechtern, von zwei unschmelzbaren Gletschern, die genau das Gegenteil voneinander seien, das erzähle ich nicht weiter." 

 

"... ich bin einmal volljährig geworden und in die grösste Stadt meines Landes gezogen, und damals gab es ja nur zwei Geschlechter, also meinen Körper gab es damals noch gar nicht, ..."

 

Da steckt auch schon eines der beiden Themen des Romans sehr deutlich drin. Es gibt aber eben noch ein anderes, weniger leicht fassbares Thema. Das erzählende Ich schreibt seiner Großmutter (Großmeer, mehr dazu in Teil 2 des Romans) und untersucht nicht nur ihr Leben, sondern auch das Leben aller Frauen zuvor. So nimmt das erzählende Ich die Leben der weiblichen Vorfahren sehr genau unter die Lupe mit einem klaren Fokus weg von den Herren, hin zu den Damen. Das war als Ansatz interessant (und mir persönlich in der Praxis zu lang). Da davon auszugehen ist, dass das erzählende Ich einen männlich gelesenen Körper hat (sonst hätte der Mensch in der Schwulenszene auch nicht so viel Erfolg gehabt), ist es besonders interessant, dass hier die weiblichen Vorfahren untersucht werden, gemeinsam mit der weiblichen Seite des erzählenden Ichs.

 

Queerfeindlichkeit ist auch Thema (leider auch im Nachgang gegenüber der Person Kim in unserer Welt) und das ist der für mich wichtigste Aspekt des Romans. Umso bezeichnender die vielen Hass-Rezensionen bei amazon, die nur unterstreichen, wie wichtig Kims Perspektive ist:

 

"selbst jetzt - wo ich seit drei Jahren in meinem ... ähm ... Prozess bin - habe ich immer noch Angst, jeden fucking Tag. Nicht, wenn ich mich anziehe oder schminke, nicht, solange ich in meiner Wohnung bin, sondern sobald ich meine Tür öffne und 'die Welt' betrete. Tut mir leid, Mo, ich bin neidisch auf die heterosexuellen Männer, die Nagellack nur als politisches Zeichen tragen, die aber keine Angst davor haben, geschlagen, beleidigt und bespuckt zu werden; auf Typen wir dich, die keine Angst haben, weil sie kein Leben mit alltäglicher, ständiger Gewalt, mit Mikro- und Makroaggressionen erleben. Und weißt du, was mich am meisten aufregt? Dass ich Angst haben muss, Nagellack zu tragen, und du nicht. Denn du kannst ihn einfach abnehmen und bist safe. Aber ich, wir, wir können 'diese Dinge' nicht abnehmen. Denn es geht nicht darum, was wir tragen, sondern darum, wer wir sind."

 

Interessant finde ich als SF-Fan, dass Ursula K. Le Guin (natürlich wegen die linke Hand der Dunkelheit, aber nicht nur) erwähnt wird.

 

Teil 2 war mir sehr schräg. Teil 3 gibt es doppelt, eigentlich auf Englisch, es gibt aber eine Übersetzung. Es hat einen Sinn, dass es eigentlich Englisch ist, ja, aber schräg ist es trotzdem.

 

Für mich wäre das hier ein gutes Schlusswort gewesen (ist es aber nicht):

"Ich wollte über dich schreiben, Großmutter, weil dein Leben in mir ist. Und es wird sterben, wenn ich sterbe. Ich bin dein Ende."

Sprache

Die Sprache ist eigen, aber ich habe mich darauf eingelassen (jedenfalls größtenteils) und einige schöne, frische und originelle Stellen gefunden, die ich beeindruckend fand. Zwar war der Roman für mich dann eher ein Mosaik, in dem ich auf Perlensuche gegangen bin, als ein gutes Ganzes, aber damit kann ich gut leben. 

 

Manchmal wurden eben doch Tippfehler übersehen, oder war "umesonst" doch Absicht? Oftmals werden Worte eigenwillig geschrieben, "Mischlingin" fand ich sehr seltsam, oder auch "besondrigs". 

 

In der Schweiz gibt es ja kein ß und Kim ist aus der Schweiz. Das ist mir aber erst beim Abtippen der Zitate aufgefallen.

 

Einige Beispiele:

 

" ... ich habe mir Muckis anproteiniert" (persönliche Anmerkung: Wenn das nur so einfach wäre!)

 

"Ich hüpfte in beballerter easyJet-organger Aufgejazztheit zwischen Berlin und Zürich hin und er, machte Aderlass und gab mir das Mainstream Gaydom beider Städte intravenös".

 

Einiges lässt tief blicken, ist irgendwie krass persönlich und abgefuckt, aber durchaus gut formuliert (oder, sagen wir mal: überzeugend):

"Ich wollte die Namen meiner Gefickten nicht wissen, aber ich zählte sie und liess sie mir alle paar Monate als Striche über meinen bubble but, meinen in unzähligen hot-ass-tutorials gestählten Arsch tätowieren, das Arschgeweih meiner Nümmerchen wuchs, die Samenbank des europäischen Hodenrudels säte sich unter meine Haut und wucherte meinen Rücken hoch, wie die Dornenhecke Dornröschen Turm bewuchert; ..."

 

Über einen Mann: ".. wollte ihn aufmachen und mich in ihn hineinlegen, wie in einen vorgewärmten Schlafsack"

 

"er schält mich, ich bin seine Lustzwiebel" 

 

"Meine Hände sind mir viel zu gross, sie sind zwei riesige Handschuhe an meinen Knochen"

Rezeption

Wenn ich sage, dass der Roman polarisiert, ist das wohl eine Untertreibung. Die Leute gehen ganz schön ab.

Fazit

Es hat mir genützt, das zu lesen. Dass es so viel Queerfeindlichkeit da draußen gibt, fällt mir sonst in meiner geschützten Bubble im öffentlichen Dienst gar nicht auf. 

Offenbar fühlen sich einige durch Menschen wie Kim bedroht. Worin genau, das kann ich jedoch noch immer nicht begreifen.

Mutiges Buch. Mutiger Mensch.

Harte Fakten

Titel Blutbuch 
geschrieben von Kim de l'Horizon 
Verlag DUMONT Buchverlag
Rezensionsexemplar nein, selbst gekauft  
Erscheinungsjahr 2022 
Seitenzahl 333 
Original Twitter Tweet https://twitter.com/Rezensionsnerd1/status/1585484333392986112 
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