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Gastrezension: Die Gabe von Naomi Alderman

Naomi Alderman: Die Gabe

Orig.: The Power, 2016

Heyne, München, 04/2018, Paperback, ISBN 978-3-453-31911-0

 

Wie sähe wohl eine Welt aus, in der die Frauen eine Fähigkeit entwickeln, die sie den Männern in körperlicher Hinsicht überlegen macht? Eine Welt, in der Frauen keine Angst mehr haben müssten, von Männern unterdrückt oder misshandelt zu werden? Eine Welt, in der Frauen weltweit die Macht übernehmen?

 

Dem Roman „Die Gabe“ von Naomi Alderman liegt eine ebenso simple wie faszinierende Idee zu Grunde. Durch eine im zweiten Weltkrieg freigesetzte Chemikalie kommt es bei den weiblichen Nachkommen der damals lebenden jungen Mädchen zu einer Mutation. Sie entwickeln ein neues Organ, den sogenannten Strang, der Mädchen ab der Pubertät plötzlich in die Lage versetzt, in ihrem Körper Elektrizität zu erzeugen und Stromstöße abzugeben. Mädchen und Frauen, die über die Gabe verfügen, können sie bei anderen erwecken.

In vielen Staaten kommt es zu Demonstrationen und Aufruhr, weil Frauen sich gegen Unterdrückung auflehnen und ihre Rechte einfordern. Viele Frauen nutzen ihre Fähigkeit aber auch, um Männer einzuschüchtern, oder rächen sich an männlichen Peinigern, die sie misshandelt oder vergewaltigt haben.

Männer fühlen sich zunehmend bedroht und fordern harte Gesetze und Sanktionen gegen Mädchen und Frauen, die über die Gabe verfügen. Es kommt zu Hetze, Gewalttaten und Anschlägen gegen Mädchen und Frauen. Schon bald geraten tradierte Rollenverteilungen und Machtgefüge ins Wanken. Nun sind es die Männer, deren Rechte und Freiheiten mehr und mehr eingeschränkt werden. Es sind die Männer, die Opfer von Sexualstraftaten werden, die als „schwaches“ Geschlecht gelten. 

Der Roman ist zwar schon 2018 auf Deutsch erschienen, wegen der gleichnamigen, seit 2023 auf Amazon Prime laufenden Serie, für die Alderman als Drehbuchautorin fungiert, aber nach wie vor aktuell. Dabei umfasst die Serie allerdings nur die erste Hälfte des Romans.

Alderman erzählt die Geschehnisse anhand der Schicksale ihrer vier Hauptpersonen.

Tunde ist ein junger Nigerianer, der er als erster Filmaufnahmen davon macht, wie ein Mädchen seine Gabe einsetzt, und diese ins Netz stellt. Das macht ihn schlagartig berühmt. Fortan reist er als Reporter durch die ganze Welt, um die gesellschaftlichen Auswirkungen der Gabe zu dokumentieren, den Freiheitskampf der Frauen unter restriktiven Regimen und die geänderten Lebensumstände weltweit. Er wird aber auch Zeuge, wie Frauen ihre Gabe als Werkzeug der Unterdrückung und Einschüchterung benutzen, und gerät dabei mehr als einmal in Lebensgefahr.

 

Allie ist ein junges Mädchen aus Florida, das seit ihrer Kindheit von einer Pflegefamilie zur nächsten gereicht wird. Eines Tages, als ihr Pflegevater sie zum wiederholten Mal vergewaltigt, hört sie eine Stimme in ihrem Kopf, die sie auffordert, ihre neu erwachte Gabe zu nutzen, um ihn zu töten. Sie tut, was ihr die Stimme sagt, flüchtet und findet unter dem Namen Eve Zuflucht in einem abgelegenen Nonnenkloster, das auch andere Mädchen mit der Gabe aufgenommen hat. Durch geschickte Manipulationen und den Einsatz ihrer Gabe steigt sie nach kurzer Zeit zur spirituellen Führerin auf. Als Mother Eve gründet sie ihre eigene Kirche, in der sie die Botschaften verkündet, die sie angeblich von Gott (von Ihr) erhält. Schon bald folgen Frauen auf der ganzen Welt ihrer Lehre. Allie ist überzeugt, dass Sie die Welt neu erschaffen und den Frauen übertragen will.

 

Roxy ist die uneheliche Tochter eines Londoner Unterweltbosses, die sich für wesentlich geeigneter hält als seine drei ehelichen Söhne, ins Geschäft einzusteigen. Als ihre Mutter ermordet wird, bringt sie den Mörder eigenhändig um. Ihre Gabe ist außergewöhnlich stark ausgeprägt, und ihr Vater erkennt schnell, wie nützlich ihm Roxy sein kann. Er überträgt ihr einen Teil der Geschäfte, doch Roxy drängt ihn schließlich aus der Firma und übernimmt selbst die Leitung. Sie baut ein weltweites Drogenimperium um eine Substanz auf, deren Konsum die Gabe verstärkt, was sie u.a. attraktiv für das Militär macht.

 

Margot ist Bürgermeisterin einer Stadt in den USA. Aufgrund neu eingeführter Bestimmungen muss sie verheimlichen, dass ihre Gabe von ihrer Tochter Jocelyn erweckt wurde, weil sie sonst ihren Job verlieren würde. Wütend und frustriert beschließt sie, für das Gouverneursamt zu kandidieren, um Gesetze zu erwirken, die den Mädchen und Frauen helfen, mit ihre Gabe umzugehen, statt ihre Rechte einzuschränken. Als sie vor laufender Kamera ihre Fähigkeit einsetzt, um ihren männlichen Konkurrenten zu attackieren, gilt sie plötzlich als „starke“ Frau und gewinnt die Wahl. Als erste Maßnahme gründet sie Mädchencolleges, in denen Mädchen den Umgang mit der Gabe erlernen und trainieren. Im Ergebnis handelt es sich dabei um Militärakademien, in denen Soldatinnen herangezogen werden. Fortan übt Margot entscheidenden Einfluss auf die Landes- und später auf die Bundespolitik in den USA aus, in denen sich die Macht mehr und mehr auf die Frauen verlagert. 

 

Im Laufe der Jahre kreuzen und verweben sich die Lebensläufe der vier Personen, bis sie in einem Balkanstaat aufeinandertreffen, in dem sie alle ihre eigenen Interessen verfolgen. Hier kommt auch Tatiana, die ehrgeizige Frau eines osteuropäischen Diktators, ins Spiel, die in der Serie eine wesentlich prominentere Rolle einnimmt.

Überzeugend zeichnet Alderman die Entwicklungen in einer Welt, in der plötzlich alles auf den Kopf gestellt wird und die Männer sich in der Position wiederfinden, körperlich unterlegen zu sein,  diskriminiert und teils brutal unterdrückt zu werden, während Frauen in Politik, Wirtschaft und Militär die Macht übernehmen.

 

Aber auch wenn sich bei mancher Leserin zu Anfang des Buches vielleicht ein gewisses Gefühl der Befriedigung einstellt (getreu dem Motto: „Das geschieht ihnen ganz recht!“), weicht dieses bald der Ernüchterung. Denn Alderman verfällt nicht der Versuchung, die Mädchen und Frauen in ihrem Roman zu Heldinnen zu stilisieren. Der hehren Idee, dass in einer Welt, in der die Frauen die Geschicke bestimmen würden, Gewalt und Krieg keinen Platz hätten, erteilt sie gnadenlos eine Absage. Alderman hält nichts von der Vorstellung, Frauen seien von Natur aus sanftmütig und friedfertig. Viele Frauen schlagen nicht nur zurück, sondern verfallen in dieselben Verhaltensmuster wie die Männer, die sie zuvor unterdrückt haben, sie eingesperrt, misshandelt oder sogar zur Prostitution gezwungen haben. Sie verfolgen Männer allein wegen ihres Geschlechts. Die drastische Beschreibung eines Massakers, das Söldnerinnen an männlichen Flüchtlingen vornehmen, wobei sie ihre Opfer foltern und vergewaltigen, bevor sie sie ermorden, ist in ihrer Intensität kaum erträglich. 

 

Der deutsche Titel des Romans „Die Gabe“ lässt die Fähigkeit, die die Mädchen und Frauen entwickeln, als etwas grundsätzlich Positives erscheinen, als ein Geschenk einer höheren Macht, so wie Allie es sieht. Im Original heißt der Roman passender „The Power“ – die Macht. Er ist ein Lehrstück darüber, wie Macht korrumpiert. Während die Gabe den Mädchen und Frauen zu Anfang vor allem dazu dient, sich gegen männliche Übergriffe zu wehren oder -  z.B. in den arabischen Ländern - Freiheit und Gleichberechtigung zu erstreiten, und damit letztlich moralisch gerechtfertigt erscheint, wandelt sie sich mehr und mehr zum Instrument der Unterdrückung. Die Gabe ist eine Waffe und wird als solche eingesetzt. Sie wird ganz selbstverständlich benutzt um einzuschüchtern, zu bestrafen, zu verletzen. Allein schon deshalb, weil es so einfach ist, so „natürlich“. Die jungen Mädchen strotzen genauso mit ihrer Gabe wie heutzutage männliche Jugendliche mit ihrer Körperkraft. Sie machen sich einen Spaß daraus, anderen einen elektrischen Schlag zu versetzen. Die erwachsenen Frauen nutzen ihre Gabe, um Männer mehr und mehr zu dominieren. Und dieses Verhalten wird honoriert. Margot, die ihren männlichen Konkurrenten mit ihrer Fähigkeit attackiert und verletzt, gewinnt die Wahl, weil sie „Stärke“ bewiesen hat, während ihr Gegner als „Schwächling“ gilt. Roxy mit ihrer außergewöhnlich stark entwickelten Gabe wird von Frauen und Männern gleichermaßen bewundert und beneidet. 

Margots moralische Empörung gegen die Gesetze zur Registrierung der Frauen und Mädchen, die über die Gabe verfügen, erweist sich im Nachhinein als fatal. Denn gerade das Fehlen geeigneter, auch durch Ethik und Moral bestimmter Regelungen zur Beschränkung des Einsatzes der Gabe öffnet dem Missbrauch Tür und Tor, ermöglicht es, dass Diskriminierung und Ausgrenzung der Männer mehr und mehr durch das Recht des Stärkeren gerechtfertigt werden. „Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut.“ Der berühmte Ausspruch des britischen Historikers Lord Acton bringt es auf den Punkt.

Allie, Roxy und Margot missbrauchen aber nicht nur die Gabe an sich, sondern auch die so gewonnene religiöse, wirtschaftliche und politische Macht, verstricken sich immer tiefer in Verbrechen, politische Intrigen und die Unterstützung menschenverachtender Regime, um ihre persönlichen Ziele zu verfolgen. Und auch Tunde benutzt seine Macht als Journalist, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. 

Sie alle sind auf ihre Art Getriebene: Tunde, der immer auf der Jagd nach der besten Story ist, bis er fast sein Leben verliert und begreift, dass das Ganze kein Spiel ist und ihn Ruhm nicht unverwundbar macht. Allie, die überzeugt ist, in Ihrem göttlichem Auftrag die ganze Welt verändern zu müssen und sich dabei durch nichts aufhalten lässt  - bis zum bitteren Ende. Roxy, die sich nach Anerkennung sehnt und sich immer und überall beweisen zu müssen glaubt, weil sie sich nur durch ihre Stärke definiert. Und Margot, die sich von Männern diskriminiert fühlt und endlich an die Spitze will, die zeigen will, dass sie es besser kann – und die mit ihren idealistischen Vorstellungen doch an der harten Realität der Politik scheitert.

Alderman gebraucht schnörkellose Sätze, die überwiegend die Handlung vorantreiben, ohne sich groß in Beschreibungen zu ergehen, oft sogar nur Dialoge. Die Sprache der Hauptpersonen spiegelt ihre Lebensumstände, wirkt lebendig und authentisch. Das gilt vor allem für Roxys derbe Wortwahl, die ihre Herkunft verrät, und Allies salbungsvolle Botschaften, die von einem US-amerikanischen Fernsehprediger stammen könnten. Der Einsatz des Präsens zieht die lesende Person ganz dicht an das Geschehen heran, manchmal fast zu nah. Es ist kein Buch, das gefallen will. Es soll aufrütteln, und das gelingt Alderman hervorragend – bis zum schockierenden Schluss.

Am Ende erklärt sich auch, warum Alderman sich einer Rahmenhandlung bedient und mit dem Trick arbeitet, einen Mann (dessen Name ein Anagramm ihres eigenen Namens ist) als Autor des Buches auszugeben, das zudem als historischer Roman bezeichnet wird. Dass das Buch rückblickend aus der Zukunft verfasst sein soll, weiß die lesende Person dadurch gleich zu Anfang. Was für eine Zukunft das ist, wird sich am Ende herausstellen.

„Die Gabe“ bezieht seine Faszination aus der Umkehrung des Blickwinkels, mit dem er gesellschaftliche Strukturen und Mechanismen betrachtet. Er ist ein Roman, der lange nachwirkt, auch und gerade, weil er keine einfachen Lösungen bietet. 

 

Chris(tine) Witt

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