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Gastrezension: Lucy Kissick: Projekt Pluto

Lucy Kissick: Projekt Pluto

Orig.: Plutoshine, 2022

Heyne Verlag, 07/2023, Paperback, ISBN 978-3-453-32259-2

 

In nicht allzu ferner Zukunft haben die Menschen den Pluto erreicht. Der visionäre Wissenschaftler und Milliardär Clavius Harbour lebt dort mit ein paar hundert Siedlern in einer Basis, deren Leiter er ist. Zehn Jahre zuvor haben sich die Siedler auf sein Betreiben hin dafür ausgesprochen, Pluto zu terraformen. Nun trifft das Wissenschaftler-Team endlich ein. Aber Clavius Harbour kann die Erfüllung seines Traums nicht genießen. Er liegt seit einem Unfall während eines Ausflugs mit seinem Sohn und Stellvertreter Edmund und seiner erst zehnjährigen Tochter Nou im Koma. Edmund hat sich seit diesem Vorfall vor einem Jahr verändert, ist schroff und wortkarg geworden, und Nou spricht nicht mehr.

 

Lucian, der Solaringenieur des Terraforming-Teams, ist seit seiner Kindheit ein Bewunderer von Clavius Harbour und begeistert von der Vorstellung, dessen Ideen zu verwirklichen. Er ist vom Schicksal der kleinen Nou angerührt und bringt ihr die Gebärdensprache bei, während er sich mit Feuereifer in die Arbeit stürzt. Projekt Plutoshine sieht vor, einen der Monde des Pluto in eine künstliche Sonne zu verwandeln, in einen riesigen Brennspiegel, der das Licht der fernen Sonne verstärken und auf den Pluto leiten soll. Aber schon bald kommt es zu einer Reihe von Unfällen und es stellt sich heraus, dass jemand das Projekt sabotiert. Zugleich wird in Rückblenden erzählt, was bei jenem verhängnisvollen Unfall passiert ist, seit dem Clavius Harbour im Koma liegt. Es stellt sich heraus, dass Nou extraterrestrische Lebensformen auf dem Pluto entdeckt hat und Clavius deren Existenz um jeden Preis verschweigen wollte. Der bewunderte Forscher entpuppt sich als rücksichtsloser Machtmensch, der bei der Verwirklichung seiner Ziele buchstäblich über Leichen geht. Edmund kennt als einziger die Wahrheit über seinen Vater und ist entschlossen, alles zu tun, um Nou vor ihm zu schützen. Während Lucian sich verzweifelt bemüht, eine Katastrophe zu verhindern und das Projekt zu retten, bemüht sich Edmund, ein Verbrechen zu vertuschen, muss aber erkennen, dass er sich entscheiden muss, das Richtige zu tun, wenn er Nou nicht verlieren will.

 

Nach all den literarischen Terraforming-Projekten auf dem Mars ist es erfrischend, dass Kissick eine ganz andere Welt in das Zentrum ihrer Geschichte rückt, eine Welt, die so kalt und fern ist, das man sich fragt, ob überhaupt jemals jemand auf den Gedanken verfallen könnte, dort siedeln zu wollen. Es ist eine Welt, die so weit von der Sonne entfernt ist, das die Sonne nur ein kleiner leuchtender Punkt ist, kaum größer als all die anderen Sterne. Aber Lucy Kissick zeichnet in „Projekt Pluto“ ein so detailliertes, realistisches Bild des Pluto, dass man glauben könnte, Kissick wäre tatsächlich dort gewesen. Kissick ist Astrogeologin. Sie weiß, wovon sie schreibt, und sie schafft es mühelos, die lesende Person auf diesen fernen Zwergplaneten mitzunehmen. Man sieht die weiten Stickstoffeisflächen förmlich vor sich, die stark gekrümmte Horizontlinie, die riesigen Berge aus Wassereis. Mit dem Neuankömmling Lucian erlebt man die Entdeckung dieser Welt, die Faszination ihrer kalten Schönheit, und empfindet es plötzlich als gar nicht mehr so unvorstellbar, dass Menschen dort leben und Pluto sogar als Heimat betrachten könnten.

 

Ebenso realistisch und spannend wird das Terraforming-Projekt mit seinem theoretischen Überbau und seinen einzelnen Phasen geschildert. All das ist zwar noch Zukunftsmusik, aber es ist eine Zukunft, die tatsächlich möglich erscheint und die Kissick den Lesenden hier nicht in immer neuen drögen Vorträgen vermittelt, sondern durch die begeisterten, bildhaften Vorstellungen eines jungen Forschers, der sein Herzblut in das Projekt steckt. Das ist Hard SF at its best, denn im Gegensatz zu manch anderen Schreibenden des Genres weiß Kissick nicht nur mit einem auf Fakten und Forschungsergebnissen basierenden Weltenbau zu überzeugen, sondern auch mit glaubhaften, lebendigen Charakteren und einer mitreißenden Geschichte.

 

Der Roman wird aus der Perspektive dreier Personen erzählt. Da ist zunächst der Solaringenieur Lucian. Als Kind hat er auf dem Merkur miterlebt, wie sein Vater bei einem Versagen der Hauptkuppel mit Tausenden anderen umgekommen ist. Die Erde scheint kaum noch bewohnbar zu sein, weil Flüchtlinge von dort zum Merkur geschickt werden. Auch das Terraforming hat schon katastrophale Fehlschläge zu verzeichnen, u.a. auf dem Mars. Das alles hat Lucian geprägt. Er will etwas bewirken und ist vom Nutzen des Terraforming überzeugt. So tut er alles, damit „sein“ Projekt Plutoshine nicht ebenfalls in einer Katastrophe endet, selbst wenn er dafür sein Leben riskieren muss. Doch er ist ganz und gar nicht der typische Held, kein furchtloser Draufgänger und nicht mal besonders sportlich. Er ist ein begeisterungsfähiger, einfühlsamer junger Mann, ein Genie auf seinem Fachgebiet, aber in der Lage, sich wie ein kleines Kind zu freuen, endlich am Sehnsuchtsort seiner Jugend zu stehen. Dabei ist seine Heimatwelt, der Merkur, obwohl nicht weniger lebensfeindlich, mit seinen hohen Temperaturen und der starken Sonneneinstrahlung das genaue Gegenteil des dunklen, eisigen Pluto. So ist es nicht überraschend, dass der „Sonnenbringer“ wie der Rest des Terraforming-Teams an Depressionen zu leiden beginnt und sich – wie Nou – mühsam zurück ans Licht kämpfen muss.

 

Dann ist da Edmund, der engagierte, pflichtbewusste, aber distanzierte Leiter der Basis, den das Trauma seiner kleinen Schwester seltsam kalt zu lassen scheint, bis man in seinen Kopf schaut und erkennt, dass seine einschüchternde und abweisende Haltung Nou gegenüber nur eine Maske ist, die er aufsetzen muss, um sie zu schützen.

 

Und natürlich die wissbegierige, mutige Nou, die mühsam lernen muss, ihre eigene Stimme wiederzufinden. Einfühlsam und überzeugend schildert Kissick, wie Nou sich durch das Erlernen der Gebärdensprache langsam öffnet, allmählich Sicherheit und Vertrauen wiedergewinnt. Eindringlich zeigt sie, wie Sprache in all ihren Ausdrucksformen, sei es durch das gesprochene Wort, Schrift oder Gebärden, Austausch und Teilhabe ermöglicht – aber auch, was es bedeutet, die Fähigkeit, sich auszudrücken, zu verlieren. 

 

Nou ist es auch, die ihre ganz eigene Form der Kommunikation mit den extraterrestrischen Lebensformen findet. Mit der Neugier und dem Entdeckergeist eines Kindes geht sie daran, das Rätsel zu lösen, auf das sie bei ihren Ausflügen in der Nähe der Basis gestoßen ist, und führt einen ganz und gar unprätentiösen Erstkontakt durch – nicht ahnend, dass ihre Freude über die Entdeckung nicht von jedermann geteilt wird. Einmal mehr wird hier der menschliche Forscherdrang der leider ebenso menschlichen Gier nach Profit, begleitet von Korruption und Ausbeutung, gegenübergestellt. Das Vorhandensein von Leben auf Pluto würde das Aus für das Terraforming Projekt bedeuten.

 

„Projekt Pluto“ ist über weite Strecken ein ruhiger Roman, der sich viel Zeit für die Vorstellung und Entwicklung der Charaktere nimmt und die lesende Person an den Höhen und Tiefen des Projektes und den Freuden und Nöten der Mitglieder des Teams teilhaben lässt. Seine Spannung resultiert weniger aus Actioneinlagen (die es auch gibt), als vielmehr aus der Selbstverständlichkeit, mit der das Leben auf Pluto und das Terraforming-Projekt geschildert werden. Es sind all die kleinen Details, die beim Lesen fesseln, wie der Tombough-Tag, der auf der Basis gefeiert wird, benannt nach dem Astronomen, der den Pluto 1930 entdeckte, oder der ausgestellte Nachbau der New Horinzons-Sonde. Mindestens ebenso spannend jedoch ist das Familiendrama, das sich zunächst im Hintergrund abspielt, aber mehr und mehr zum Dreh- und Angelpunkt der Geschichte wird, um auf die scheinbar unausweichliche Katastrophe zuzusteuern. Denn ein Mann wie Clavius Harbour lässt sich durch nichts aufhalten – nicht einmal, wenn er im Koma liegt.

 

 

Christine (Chris) Witt

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