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Die Vereinigung jiddischer Polizisten von Michael Chabon

Inhalt

Kaum lese ich drei, vier Rezensionen von einem Buch, die allesamt begeistert sind, kaufe ich es mir und lese es. Nun gut, die Höhe meines SuBs verlangt eigentlich Kauf-Stillstand und meine Merkliste klettert allmählich über dreihundert. 

Dieses Buch musste ich dann doch mal neugierig dazwischen schieben und ich genieße es in der Tat!

 

Die jüdische Stadt Sitka in einer alternativen Realität in Alaska im Jahre 2007. Chabon hat den Plan von Harold L. Ickes in seinem Roman in die Tat umgesetzt: Ein Teil Alaskas ist nun jüdisches Territorium, zumindest vorübergehend (hier für sechzig Jahre, die fast abgelaufen sind). 

 

Der Polizist Meyer Landsmann ist Anfang vierzig, kinderlos und seit drei Jahren von Bina geschieden. Als Ermittler ist er durchaus erfolgreich und hat so einige Morde aufgeklärt, die nicht ganz unverwickelt gewesen sind. Außerdem hat er Angst im Dunkeln und vor engen Räumen.

 

So viele tolle Figuren, so ein unglaubliches Setting - und mittendrin ein Mordfall, der aber zunächst weniger faszinierend ist, da ich so abgelenkt von allem anderen bin. Sogar vom Schach. Ich liebe Schach. Meyer Landsmann übrigens nicht, allerdings war sein Vater von Schach begeistert, sowie viele andere Menschen in seiner Umgebung, so dass Landsmann dennoch einiges von dem Spiel versteht.

 

Wer gern Krimis liest, wird hier allerdings nicht glücklich. Ja, es gibt einen Mordfall und ja, der ist auch interessant. Aber eigentlich geht es nicht (nur) darum. Die Hauptfigur Meyer Landsmann und seine Probleme, sowie die Probleme seines Volks, stehen im Vordergrund. Selten wurde eine Figur so eindringlich geschildert, dass ich als Leserin das Gefühl habe, ich sei seit siebzehn Jahren mit ihm verheiratet und würde jeden Winkel seines Lebens kennen. 

 

In zwei Monaten soll das explizit jüdische Gebiet organisatorisch in andere Hände fallen (Reversion). Es ist unklar, ob alle Polizist:innen dann ihre Jobs behalten, alle Einwohner:innen ihr Zuhause. Meyer Landsmann und sein Partner bekommen eine neue Chefin: Bina, Meyers Exfrau. Die Vergangenheit der beiden wird ausreichend ausgeleuchtet, so dass ich die Seltsamkeit dieser Situation gut nachfühlen kann. Das Scheitern der Ehe der beiden kommt mir ebenso tragisch wie überzeugend vor, im Vordergrund steht hier der Verlust eines Babys während der Schwangerschaft, der Meyer auch nach Jahren noch immer zusetzt. 

 

Nun haben er und sein Partner zwei Monate Zeit, die elf ungelösten Fälle zu klären, sonst kommen sie in Schrank 9 - was bedeutet, sie bleiben ungelöst. Leider ist erst am Morgen ein weiterer Mord dazugekommen, der ausgerechnet in dem Hotel verübt wurde, in dem auch Meyer Landsmann wohnt. Das Opfer ist nur vordergründig ein Junkie, der gut Schach gespielt hat. Offenbar hat er messianische Fähigkeiten gezeigt.

 

Es hilft vermutlich beim Lesen, wenn man sich ein wenig mit dem Judentum auskennt. Ich weiß fast gar nichts. Was ich weiß, weiß ich von Noah Gordons Medicus und einem recht kurzen Besuch in Jerusalem im Jahre 2014. So habe ich durch Small-Talk beim Abendessen mit jüdischen Kollegen aus Israel ein wenig ein Gefühl dafür bekommen, dass es in der Religiosität der Juden krasse Unterschiede gibt, und, obwohl der Sabbat für alle eine große Rolle spielt, es auch da enorme Unterschiede in der Befolgung gibt. Auch in diesem Roman gibt es eine Gruppe, die alles deutlich ernster nimmt als beispielsweise Landsmann und die anderen Polizist:innen und er kommt in die Situation, diese ausgerechnet am Sabbat stören zu müssen. Es werden einige jiddische Begriffe benutzt, die im Glossar erklärt werden. Ich habe mir das beim Lesen aber nicht anzeigen lassen, das meiste ergibt sich aus dem Zusammenhang (und es hilft sicher auch, wenn Deutsch statt Englisch die Muttersprache ist).

 

Auch Nebenfiguren gewinnen sehr rasch an Tiefe und erhalten ein Gesicht. Dazu möchte ich mir einige Satzteile am liebsten ausschneiden und auf meinen Zahnputzspiegel kleben:

 

"Er (Landsmann) klammert sich an seine Scholem wie an einen Griff, ringt mit dem irren Bedürfnis, der Dunkelheit in die Kehle zu schießen."

 

"Die Dunkelheit folgt ihm den ganzen Weg zurück die Treppe hinaus bis in die Lobby, greift nach seinem Kragen, zupft an seinem Ärmel"

 

"Messias kommt", sagt er. Es ist keine richtige Warnung, doch als Erlösungsversprechen fehlt es dem Satz an der gewissen Wärme.

 

"Bina nimmt das Kompliment an wie eine Limonadendose, von der sie glaubt, dass er sie vorher geschüttelt hat."

 

"[Bina] macht ein Gesicht, als hätte sie gerade Ohrenschmalz vom Finger geleckt" (also, das würde ich am liebsten klauen!)

 

"Seine Haut ist so blass wie eine Seite im Thorakommentar"

 

Die Dialoge sind auch sehr gut. Sie klingen echt. 

 

"Ich habe gehört, dass es dir schlecht geht, aber ich dachte, man wollte ich bloß aufheitern."

 

Mal hier mal da liest es sich vielleicht zu blumig, wird es zu detailreich. Aber darüber sehe ich gern hinweg, weil ich den überwiegenden Anteil dieser Detailreiche einfach nur genieße. Trotz hohem SuB lese ich langsam, lese auch mal eine halbe Seite zweimal, bleibe an einer Passage eine Weile hängen, halte im Lesen inne und denke ein wenig nach. Das hier ist ein Roman, wie auch kürzlich "The Time Traveller's Wife", für den diese Art von Zeit einfach sein muss. Das kann und will ich nicht einfach mal rasch weglesen. Und auch hier bin ich versucht, wie schon kürzlich bei "Das Licht der letzten Tage", das englischsprachige Original gleich hinterher zu schieben. Da widerstehe ich aber.

 

Die Hauptfigur Meyer Landsmann gerät dann doch wirklich in größtmögliche Schwierigkeiten. James N. Frey müsste damit zufrieden sein. Fehlt nur noch, dass Meyer zwischendurch mal tot ist (was bei der nicht nur angedeuteten Messias-Problematik ja auch passen würde, nur dass Meyer Landsmann ja nicht der Messias ist). 

 

Nach etwa der Hälfte wird es dann doch um einiges komplexer. Auch wenn der Roman in einer fiktiven Alternativwelt spielt, wäre es hilfreich, man kennte sich besser mit dem Konflikt zwischen Palästina und Jerusalem aus und auch generell besser mit jüdischer Geschichte, ihrer Kultur und ihren Mythen. Mir sagte von letzterem fast nichts etwas. Das mindert mein Lesevergnügen doch etwas, allerdings kann ich dem Autor ja schwerlich meine fehlende Allgemeinbildung vorwerfen. Dafür komme ich im Showdown wieder sehr gut klar, da Schachprobleme eine nicht unwichtige Rolle spielen.

 

Der Autor

Wie ich schon den Sekundärtexten entnehmen konnte, ist der Autor alles andere als ein Genre-Autor. So stammen beispielsweise die Wonder Boys (würde 1995 verfilmt) aus seiner Feder. Eigentlich sollte auch dieser Roman von den Coen-Brüdern verfilmt werden, es sieht aber nicht so aus, als wäre das mittlerweile geschehen. Ich bin versucht, mehr von diesem Autor zu lesen, auch wenn das bedeutet, mal Ausflüge fern der Phantastik zu unternehmen. Leider gibt es nichts bei der Onleihe und als Hörbuch gibt es nur die englischen Versionen. So wie der Autor schreibt, wäre es aber vielleicht sowieso besser, es zu lesen, da ich mir sicher wieder besonders gelungene Stellen markieren möchte.

Diversität

Im Mittelpunkt stehen eigentlich nur Figuren, die benachteiligt sind und für die es keinen rechten Platz in der Welt zu geben scheint. Es kommen auch die ultraorthodoxen Juden vor, die besonders abgeschieden leben und die offenbar am Sabbat in der Regeln nicht einmal Besuch empfangen, was zu Konflikten bei der Befragung führt. Außerdem gibt es eine schwule Figur. 

Harte Fakten

Titel Die Vereinigung jiddischer Polizisten 
geschrieben von Michael Chabon 
übersetzt von Andrea Fischer 
Erscheinungsjahr 2007 
Seitenzahl 453 
Original Twitter Tweet https://twitter.com/Rezensionsnerd1/status/1418832956467056650 

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