· 

Endstation: Die Passepartout-Logfiles von Kia Kahawa

Inhalt

200 Jahre in der Zukunft haben alle Menschen dank des XX-Virus eine Lebenserwartung von 140 Jahren - aber es fallen auch Menschen aus unerklärlichen Gründen ins Koma.

 

Euphemismen fürs Sterben gibt es in der Literatur einige. Bei Ishiguros "Alles, was wir geben mussten" war es "abschließen". Hier ist es "abschalten".

 

Noah Cline, die Hauptfigur, arbeitet als Abschalter bei Global Insurance. Sehr erfolgreich, denn er hat nun seit sechs Jahren einen Score von Null. Was das genau bedeutet, entblättert sich nur sehr allmählich.

 

Jene Menschen, die ins Koma fallen, können nicht alle versorgt werden, regelmäßig werden also einige von ihnen abgeschaltet - vorzugsweise jene, die sehr alt sind oder ohne Angehörige, die ggf. klagen könnten. Darüber hinaus drohen Kriminellen auch Strafabschaltungen, die dank der zukünftigen Technik leicht und auch aus der Ferne zu verwirklichen sind.

 

Überhaupt ist die Autorin eine Meisterin darin, Dinge zunächst anzudeuten und erst später zu enthüllen. Während der ersten Hälfte des Romans kann ich das Buch also kaum aus der Hand legen, da ich auf Antworten auf meine vielen Fragen warte.

 

Noah entdeckt recht bald, dass etwas bei der regierungseigenen Krankenversicherung, für die er arbeitet, nicht mit rechten Dingen zugeht. Das gewinnt noch zusätzliche Brisanz, weil Noahs Geliebte Lucy ebenfalls zu den Menschen gehört, die im Koma liegen und denen eine Abschaltung droht.

 

Doch es ist schwer, Verbündete zu finden. Er ist gut mit seiner Haus-KI befreundet, die er Orwell nennt (1984 kommt in der Typenbezeichnung der KI vor). Darüber hinaus arbeiten auch seine Schwester und Mutter bei Global Insurance - und sein Vater ist KI-Experte. Doch wer kann ihm helfen, wem kann er trauen?

  

Weltenbau

Überzeugender, eher beängstigender Weltenbau. Ende des 22. Jahrhunderts und viele Dinge haben sich kaum geändert (Man liest also immer noch das "Doppelte Lottchen"? Seitdem gab es keine Zwillingsromane mehr? Aber das soll nur leise Kritik sein), aber vieles eben doch. Alles ist online. Es gibt extra offline-Räume. 

Trotz allen Fortschritts gibt es zum Beispiel noch immer ungewollte Schwangerschaften, so hat Noahs Kollege Oli mittlerweile drei Kinder.

 

Art des Erzählens

Die Autorin erzählt sehr szenisch mit viel Action und die erste Hälfte des Buchs ist sehr spannend und unterhaltsam.

  

Lob und Kritik

Auf beruflichen Gründen (ich arbeite in der Digitalen Langzeitarchivierung und leite seit 2014 eine AG mit Schwerpunkt auf Dateiformaten) fand ich es witzig, dass Ende des 22. Jahrhunderts offenbar die Dateiformate PDF, CSV, MP3, XLXS, TXT und CSV noch gebräuchlich sein werden. 

 

Was das Gendern betrifft, hat die Autorin vortrefflich in die Zukunft gedacht. So nutzen einige Figuren, wie auch Passepartout, das Personalpronomen "ser", auch alle anderen Formen (ses, sem, sen, ses, sesse) werden benutzt und im Anhang auch kurz den anderen beiden Pronomen gegenübergestellt. Das fügt sich beim Lesen sehr geschickt ein, so gut habe ich das Gendern und die Verwendung von Neo-Pronomen bisher noch nicht erlebt. Auch die Mehrzahl, z. B. "Beamtex" fand ich geschickt.

 

Auch die Ideen zur Nahrung (obwohl das mit der Nährpaste und der Echtnahrung nicht neu ist, so ähnlich war es bei "DAVE" von Raphaela Edelbauer beispielsweise auch) waren überzeugend.

 

Dass es eine globale Krankenversicherung gibt usw. fand ich auch gut. Von dem XX-Virus und den Leuten im Koma mag man halten, was man will. Mich hat es am meisten fasziniert, als es noch subtil und angedeutet war, später, als es ausformuliert wurde, fand ich es weniger spannend.

 

Insgesamt hatte ich den Eindruck, dass alles noch viel zu sehr wie 2021 war. OK, eine Frau kann von einer Frau schwanger werden (die australische Methode), ähnlich wie bei The Expanse, aber sonst war irgendwie zwischenmenschlich und sozial einiges dem Jetzt-Zustand doch sehr ähnlich. 

 

In der zweiten Hälfte war ich nicht mehr ganz so fasziniert wie zu Beginn. Meine Lieblingsfiguren sind Merlin, Noahs Vater und die KI Orwell. Auch die Unterhaltungen zwischen den beiden KIs Orwell und Passepartout waren teilweise interessant. Ich hatte den Eindruck, dass sich der Roman nicht so recht entscheiden konnte, welche Rolle die KIs nun einnehmen sollen. Zunächst hatte ich erwartet, dass Passepartout eine wesentlich größere Rolle spielt, schließlich kommt der Name auch im Untertitel vor und die Überschriften richten sich größtenteils nach sem (kein Fehler, Passepartout nutzt das Personalpronomen "ser"). 

 

Dass zwei recht wichtige Figuren ähnliche Namen haben (Lucy und Judy) fand ich ungünstig und die Eltern (Marlen und Merlin) klingen auch sehr ähnlich.

 

Die Antagonistin fand ich in ihren Entscheidungen nicht immer gut nachzuvollziehen. Da hätte ich mir mehr Hinweise gewünscht. Warum ist sie so böse? Warum schadet sie ihren eigenen Kindern? Müsste da nicht einiges dahinterstecken, bis man sich so verhält?

 

Insgesamt ist der Roman trotz allem lesenswert. Es werden mehr Teile folgen, die ich vermutlich ebenfalls lesen werde.

Rezeption

In diesem tollen Artikel bei Tor-Online zu deutschsprachigen Autorinnen findet man auch Kia Kawaha.

 

Dank Twitter bin ich auf Judiths Rezension im Blog Literatopia gestoßen. Ich stimme Judith zu, dass hier viel Potenzial verschenkt wurde, vor allem bei den KIs (allen voran Passepartout, Orwell finde ich gelungen). Auch Judith ist der Meinung, dass sich einiges zu heute kaum verändert hat. Auch sie hatte Probleme mit der Antagonistin.

 

Nenatie hat ebenfalls eine Rezension verfasst, ihr hat das Buch sehr gut gefallen.

 

Mittlerweile habe ich auch bei Ferrars und Fields einen Artikel veröffentlicht, da sie Beiträge zum Thema "Zukunft" suchten und auch explizit nach Rezensionen fragten. Lohnt sich zu lesen, ist komplett anders als diese Rezension, spoilert etwas mehr, aber hoffentlich nicht zu viel.

Diversität

Das Gendern ist hier geschickt gelöst. Hier und da kommt mal ein "ser" vor, die Neopronomen sind geschickt gewählt. 

Beamtex - ein interessanter geschlechtergerechter Plural (wie schade, dass das mit "Nutzer:innen" nicht funktioniert. Nutzex? Nutzerix? Klingt wie eine Figur aus einem Asterix-Comic). 

 

Außerdem ist Karma, Noahs Schwester, mit einer Frau (Judy) zusammen, die von ihr schwanger ist.

Die Autor:in

Die Autorinnenwebseite verrät, dass die Autorin andere Romane geschrieben hat, die teilweise Diversitätsthemen beinhalten, so zum Beispiel eine Sehbehinderte Figur in Hanovers Blind. Spannend finde ich, dass die Autorin das damals via Crowd-Funding selber finanziert hat. Tolle Aktion!

In ihrem Blog habe ich meine treue Twitter-Follower Michael Leuchtenberger und Michael Hirtzy entdeckt. Manchmal ist die Buch-Bubble doch echt klein.

Harte Fakten

Titel Endstation: Die Passepartout-Logfiles 
geschrieben von Kia Kahawa   
Verlag Plan9 
Erscheinungsjahr 2021 
Seitenzahl 365 
Original Twitter Tweet https://twitter.com/Rezensionsnerd1/status/1440570389650821123 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0