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Alles, was wir geben mussten von Kazuo Ishiguro

Inhalt

Es beginnt ein wenig unheilschwanger, ständig ist von Spenden die Rede, die erste, zweite, dritte und vierte, offenbar muss man sich davon erholen, am Ende lauert eben genau das: Das Ende.

 

Ziemlich schnell ist es aber auch wieder vorbei mit diesen Andeutungen und ich lese von der Kindheit und Jugend der Ich-Erzählerin Kathy. Das kann man fast als Internatsgeschichte bezeichnen. Junge Menschen, Aufseher, Freundschaften, Feindschaften, Mobbing. Und ein Geheimnis. Allerdings werden Eltern nie erwähnt, selbst das Fehlen von Eltern wird nicht erwähnt. Es gibt keine Elternbesuchstage, keine Ferien zu Hause. Es gibt nur Hailsham.

Die sehr jungen "Kollegiaten" in der internatsähnlichen Einrichtung Hailsham haben nur eine sehr schwammige Vorstellung davon, was mit den Spenden gemeint ist, die Aufseher:innen und auch die älteren Kollegiaten wissen Bescheid, dürfen aber offenbar nicht darüber sprechen. Überall könnte man belauscht werden und die Ich-Erzählerin und ihre Freunde sind sich dessen immer bewusst und achten sehr darauf, wo und wem sie etwas erzählen. Woher haben sie nur dieses Wissen, frage ich mich, dass sie so vorsichtig sein müssen? Ishiguro macht es zwar nicht so perfekt wie Atwood im Report der Magd, in dem es lange dauert, bis sich die Leser:innen ein Bild von der Welt gemacht haben, in der sich Desfred befindet, aber auch Ishiguro überlässt viel der Leserphantasie, was ich sehr zu schätzen weiß.

 

Die wirklich spannenden Aspekte bleiben zunächst unerwähnt, die eigentliche Action findet in meinem Kopf statt. Es geht um normale Zwischenmenschlichkeiten, Verhältnis zu Aufseherinnen, erste Liebe, Freundschaft, Hobbies, Zusammenhalt in der Gruppe, das Bedürfnis, auch mal alleine zu sein. Alles sehr normale Dinge für Menschen in dem beschriebenen Alter. In meinem Kopf geht es beim Hören aber ganz anders ab: Ist das jetzt eigentlich eine Art Gefängnis? Zunächst verlassen sie ihr Zuhause quasi nicht. Später gibt es auch mal Ausflüge, offenbar unbeaufsichtigt. Wie wird sichergestellt, dass sie nicht türmen? Die "Möglichen" werden erwähnt, also quasi ihre Vorlagen. Das müssten doch auch die Menschen sein, die irgendwann mal die Organe wollen? 

In anderen Geschichten über Klone (und das Thema interessiert mich sehr!) unterscheiden sich die Klone manchmal sogar körperlich. Hier scheint der einzige Unterschied zu sein, dass die Klone unfruchtbar sind (vielleicht wie bei "Orphan Black"). Aber sie leben eben kein normales Leben, sie leben nonstop in einer Art Internat, zunächst mit Aufseherinnen, ab dem 16. Lebensjahr dann woanders, ohne.

Die Berufsmöglichkeiten sind eingeschränkt. Sie träumen davon, Post auszutragen oder in einem Supermarkt zu arbeiten. Aber das steht ihnen nicht offen. Sie werden höchstens Betreuer:innen für Klone nach den Spenden. Sehr, sehr krass. Dabei ist das Buch überhaupt nicht plakativ krass geschrieben, sondern extrem zurückhaltend. Wie gesagt, findet alles im Kopf statt.

Sie scheinen auch in normaler Geschwindigkeit zu wachsen. Rein biologisch scheint das so alles heute bereits möglich zu sein (nun ja, Menschen sind vielleicht anders als Schafe). Die Moral ist eine andere Frage. Eine Aufseherin benimmt sich auch in einer Art und Weise, das ihr Standpunkt klar wird.

 

Doch Ishiguro nimmt sich auch Zeit. Wie auch schon bei den anderen beiden Büchern, die ich von ihm kenne, muss man hier wieder Geduld mitbringen. Sehr lange passiert eigentlich nichts. Wenn schon nichts, dann Alltäglichkeiten. Aber ich weiß, wen ich da lese und bin bereit mich darauf einzulassen.

 

Diese Geschichte ist mein dritter Kontakt zu Ishiguro. Der begrabene Riese war mein erstes Buch von ihm, nicht gerade einfach, da es sich auch noch um Fantasy handelte und der Plot nicht eben voller Action war und die Bedeutung oft zwischen den Zeilen steckte. So schlecht kann es mir allerdings nicht gefallen haben, da ich noch im gleichen Monat "Was vom Tage übrig blieb" las. Der Roman war allerdings erheblich einfacher zu verstehen, nicht zuletzt, weil er in dieser Welt spielt. Allerdings war der sprachlich aufgrund des speziellen Ich-Erzählers doch recht anspruchsvoll. 

 

"Alles, was wir geben mussten" wollte ich eigentlich schon kurz darauf lesen, kaufte es und begann. Doch da ich wusste, dass es um Klone geht, die früher oder später ihre Organe (oder sonstwas) loswerden würden, fand ich das erste Kapitel kaum erträglich, möglicherweise weil alles nur angedeutet wird und nur von "Spenden" die Rede ist. Ich legte das Buch erst einmal zu Seite und musste noch über drei bis vier weitere Rezensionen und Erwähnungen des Buchs oder der Verfilmung in Essays stoßen, bis ich mich endlich entschloss, das Buch noch noch zu lesen - oder zu hören, da ich aufgrund deutlich angewachsener Merkliste mittlerweile alles höre, was es zu hören gibt (das meiste auf meiner Merkliste ist nie eingesprochen worden). 

 

Die letzte halbe Stunde ist in einem Halbsatz vielleicht doch etwas expliziter - aber auch nur im direkten Vergleich zu der Subtilität des restlichen Romans. Der Horror findet doch im Kopf statt - genau da, wo er meiner Meinung nach auch hingehört. Was "abschließen" bedeutet, sollte klar sein. Was genau aber die ersten drei Spenden beinhalten - danach kann man ja offenbar noch laufen und auch noch Sex haben, nach der vierten dann nicht mehr - wird nie explizit benannt. 

Der Roman wird am Ende hin expliziter, einige Fragen werden durchaus geklärt. So wird meine anfängliche Vermutung widerlegt, die Klone würden nur einen Menschen, ihr Original (ihre "Möglichen") beliefern. Das würde ja auch die Möglichkeit beinhalten, dass einige Klone niemals liefern müssten, weil ihre Originale niemals Ersatzorgane brauchen oder eines plötzlichen Unfalltods sterben. So wäre es ja beispielsweise bei dem Film "Die Insel", der - auf völlig andere Art und Weise - ein ähnliches Thema behandelt.

 

Wo wir schon mal dabei sind: Warum fliehen die Klone nicht? Warum denken sie nicht einmal daran? Sind sie so konditioniert? Sie fügen sich ihrer Rolle. Niemand rebelliert oder haut ab, dabei werden sie ja nicht ständig bewacht, sind als junge Erwachsene, nachdem sie Hailsham verlassen haben, sogar auf sich selber gestellt.

 

Der deutsche Titel bezieht sich sehr auf die Spenden. Der Originaltitel "Never let me go" setzt einen ganz anderen Fokus. Die Protagonistin, Kathy, hat als Kind eine Kassette besessen mit einem Song, der so hieß und hat beim Hören von einer Frau taggeträumt, die dachte, sie könne keine Kinder bekommen. Dann bekommt sie wie ein Wunder doch eines und wünscht sich, dass sie es nie verlieren möge ("Never let me go, Baby" - im Hörbuch gibt es den Titel am Ende zu hören). Kathy ist sich bewusst, dass es eigentlich ein Liebeslied ist und der Rest des Texts nicht zu ihrem Tagtraum passt, aber für sie ist das die Bedeutung des Lieds. Es gibt zwei Schlüsselszenen, in denen dieses Lied eine Rolle spielt, auch in anderen wichtigen Szenen spielt die Kassette eine wichtige Rolle. Sie symbolisiert auch den Bruch zwischen der alten Welt, in der Mädchen einfach normal zur Welt kommen konnten und normalerweise fruchtbar waren und Kathys Welt, in der geklonte Menschen gemacht werden, die unfruchtbar sind und nur ausgeschlachtet werden, bevor sie ihr mittleres Alter erreichen - damit die anderen länger und gesünder leben können.

 

In der Faz wird der Roman recht ausführlich besprochen - wobei ich persönlich den Artikel im Science Fiction Jahr 2012 interessant fand, auch wenn der leider auf den Film fokussierte. Der Film scheint Top-besetzt zu sein, irgendwie kann ich mir aber eine filmische Umsetzung nicht so gut vorstellen. (Außerdem heißt es, es gäbe explizite Organspende-Szenen, das blieb mir im Roman erspart.) Ich hatte die Ishiguro-Verfilmung "Was vom Tage übrig blieb" schon abgebrochen, weil ich all die Ebenen des Romans vermisst hatte. Und das, obwohl Hopkins mitspielte. Und Emma Thompson.

 

Richtig gut fand ich die Reflexionen zu dem Roman aus dem Artikel im Science Fiction Jahr 2008 von Richard Saage "Die utopische Konstruktion als ethisches Veto: Ishiguro, Huxley, Houellebecq - zur Visualisierung der Dialektik einer liberalen Eugenik". Da geht er ebenfalls auf die Problematik ein, dass die Klone an keiner Stelle zu fliehen versuchen. Saage schreibt:

 

"Auch sie [die Menschen, die Klonen eine Seele zusprechen] finden es "normal", dass sich diese [die Klone] nur unter ihresgleichen entwickeln, scharf abgegrenzt vom Rest der Bevölkerung - nicht durch Stacheldraht und Wachttürme, sondern durch Mentalitätssperren: Offenbar wirken sie so nachhaltig, dass den Opfern nicht einmal die Idee kommt, gegen ihre "Bestimmung" zu rebellieren."

 

In einem anderen Roman zu einem sehr ähnlichen Thema, "Duplik Jonas 7" von Birgit Rabisch aus dem Jahre 1992 kommt es zu einer Rebellion (wenn diese auch nicht von den Klonen ausgeht), aber auch da gibt es eine Art Mentalitätssperre (und auch so etwas wie Stacheldraht, außerdem das Unwissen der Klone, ebendieses zu sein).

 

Mehr von Ishiguro lesen? Sein Science Fiction Werk über Klone kenne ich ja nun. Aber er schreibt ja noch weiter. Und es gibt ja noch z. B. "Als wir Waisen waren". 2021 hat er schon einen neuen Roman veröffentlicht, "Klara und die Sonne".  Ich denke, ab und zu darf es auch mal Ishiguros tiefgründige Langsamkeit sein, die vielleicht ab und zu über meinen Kopf geht. Vielleicht im Herbst wieder.

Diversität

Homosexualität wird kurz erwähnt, aber keine der Figuren bekennt sich dazu. Ein Nigerianer kommt kurz als Nebenfigur vor.

 

Allerdings: Die Klone stehen ja am Rande der Gesellschaft und werden von dieser größtenteils nicht beachtet oder gar verstoßen. Daher kann man den Roman auch so interpretieren, dass es um die Menschlichkeit und Liebesfähigkeit (und Leidensfähigkeit) einer extrem ausgegrenzten Gruppe von Menschen geht, sogar - um ganz direkt zu werden - um deren Abschlachtung im Namen des medizinischen Fortschritts.

Harte Fakten

Titel Alles, was wir geben mussten 
geschrieben von Kazuo Ishiguro 
übersetzt von Barbara Schaden 
Erscheinungsjahr 2005 
Seitenzahl 369 
Länge Hörbuch 10 Std. 33 
eingesprochen von Corinna Kirchhoff 
Original Twitter Tweet https://www.rezensionsnerdista.de/2021/07/06/alles-was-wir-geben-mussten-von-kazuo-ishiguro/ 

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