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Uncanny Magazine Issue 36 Sept/Oct 2020

Inhalt

Das Magazin enthält sieben Kurzgeschichten und einiges an Sekundärprosa. Insgesamt finde ich es sehr lesenswert, auch wenn es kein reines SF-Magazin ist (m. E. nimmt es auch Horror und Fantasy an).

 

T. Kingfisher: Metal like Blood in the Dark hat im Jahr 2021 den Hugo gewonnen und ich kann absolut nichts mit der Geschichte anfangen. Ich musste mich richtig bis zum Ende durchkämpfen und hätte die Story auch definitiv abgebrochen, wenn sie nicht den Hugo gewonnen hätte. Ich dachte die ganze Zeit: Da muss doch jetzt noch was kommen?

Vielleicht habe ich ja auch eine Ebene überlesen. Meiner Meinung nach ist es nur einfach Hänsel und Gretel (sehr  ähnlicher Plot) in den Weltraum verlegt mit einem etwas netteren Vater (der einen besseren Grund hat, die Kinder wegzuschicken als im Original) und einer nonbinären Hexe, die nicht wirklich eine Hexe ist natürlich, aber man kann them trotzdem nicht trauen. Übrigens: They/them in englischer Prosa ist extrem verwirrend. Ich denke immer, es ist von einer Mehrzahl die Rede. 

Und das Hexenhaus ist hier ein Raumschiff. 

Hänsel und Gretel sind hier Brother und Sister und es hilft mir nicht wirklich bei der Identifikation mit dem Figuren, dass sie keine Vornamen haben. Außerdem sind sie Maschinen und essen quasi Eisen. Mir kam es eher wie Fantasy vor, obwohl ja Elemente wie denkende und fühlende Maschinen, der Asteroidengürtel, das Weltall und Raumschiffe eher klare SF sind.

Es war aber so phantastisch und so schräg formuliert (Maschinen essen Eisen?), dass ich permanent mit der Geschichte Schwierigkeiten hatte.

Das einzige, was ich witzig fand, war die Idee, dass offenbar der Asteroidengürtel schon von allen wertvollen Mineralien befreit worden war, als wir Menschen noch in den Höhlen saßen. Schade. Kein The Expanse.


Samantha Mills: Anchorage

Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich mit der Geschichte warm geworden bin, war aber am Ende hochzufrieden mit der Idee und dem Plot und sehr froh, dass ich nicht auf den ersten Seiten aufgegeben hatte. Geneva - oder vermeintlich Geneva, wie auch recht früh angedeutet wird - ist hier das erzählende Ich und Geneva ist ein Robot. Vermeintlich.

Es wird recht gekonnt Spannung erzeugt:

"The bot's programming was perfectly functional, I just wan't using it. For his sake, I almost wished I really was Geneva, the A3 Delivery Robot"

Sie erzählt auch um und von ihrer Crew und recht früh wird klar, dass die Erde von "lichen" (Flechten, die überall hinwachsen) quasi heimgesucht und unbewohnbar gemacht worden ist:

"the Earth was lost to lichen, the remaining peoples moved upward, and they could not stop fighting aout it: what happened, whose fault, how to organize the people who remained"

Der Plot bietet zum Ende hin dann so viele coole Ideen und Erklärungen für alles, was vorher als Spannungserzeugung genutzt wurde, dass ich nur beeindruckt mit dem Kopf nicken kann.

Sprachlich war es manchmal zu dick, siehe hier:

"his voice, warm as hotcakes, warm as fresh growth beneath a twelve-hour carcass."

Der erste Vergleich hätte doch gelangt, oder?

Wobei einiges auch einfach cool auf den Punkt ist:

"her disapproval thick as bood clots in my chest cavity"

"The silence between us was egg-shaped, like a book bed, thin and delicate and trembling inside with its data-baby begging for release.

The egg cracked"

 

Kenneth Schneyer: Laws of Impermanence

Ein großer Spaß für mich! Ich arbeite ja in der digitalen Langzeitarchivierung und da haben wir natürlich ganz gern mal mit Bits zu tun, die kippen und dann das Potenzial haben, ein digitales Dokument inhaltlich zu verändern. In der Regel führt das aber nicht zu sinnvollen, wirklich gefährlichen Änderungen wie "Ich schulde dir 10.000 Euro" statt "Ich schulde dir 100 Euro", auch wenn so etwas sicher rein theoretisch möglich ist. Es führt nur in der Regel dazu, dass ggf. keinem Dokument mehr vertraut werden kann, wenn alle Kopien von Bitrot betroffen sind, was regelmäßige Prüfungen mittels Checksummen aber vermeiden sollten.

Genau das ist in dieser Geschichte der Fall, aber eben auch mit ausgedruckten oder handschriftlichen Texten. Mit dem ärgerlichen Nebentwist, dass die Änderungen immer so sind, dass sie Sinn ergeben und daher nicht zu merken ist, was sich geändert hat und was vorher in dem Text stand. 

Schon Aristoteles hat das entdeckt und "textual transmutation" genannt. So bietet diese Story auch einen Klacks alternate History an. Die Rate hängt von der Länge des Manuskripts ab und von der Zeit, die seit dem Entstehen vergangen ist.

Hier wird eine Familie damit konfrontiert, dass das Testament des frisch verstorbenen Vaters nicht mehr vertrauenswürdig ist, weil es seit fünfundzwanzig Jahren nicht geprüft worden ist und es auch nur zwei Kopien und nicht wie vorgeschrieben fünf Kopien, die jährlich geprüft werden, gab. Sie haben also kein gültiges Testament.

Zeitgleich wird ein ziemlich heftiger Brief eingeführt, der offenbar die Frau des Großvaters geschrieben hat, allerdings vor sehr langer Zeit, und der ungeprüft in einer Box auf dem Dachboden versteckt war.

Das Witz an der Sache ist - und damit spoilere ich jetzt extrem - dem Testament wird nicht vertraut, aber den Brief nimmt die Familie ernst, obwohl es nur eine komplett unbewachte Kopie gab. Diese unbewachte Kopie bekommen wir Lesenden dann auch in drei Versionen zu lesen. Mehr Informationen zum Hintergrund der Story gibt es übrigens weiter hinten in einem Interview mit dem Autor. Er hat das mehr aus der Sicht des Anwalts aufgerollt, da er im echten Leben als Anwalt arbeitet(e).

Mir hat die Geschichte Spaß gemacht, obwohl keine der Figuren wirklich zur Identifikation taugte. Rein plot-driven, würde ich sagen.


Lavie Tidhar: Juvenilia

Ähm, das ist Fantasy. Oder Horror. Kein SF. Ich habe es trotzdem gern gelesen, die erzählende Figur war mir sympathisch und es war so schön klassisch. 

Sie kommt frisch aus dem Krieg und gruselt sich daher nicht so leicht, und das, obwohl durchaus gruselige Dinge passieren.

Die B-Story (Lebe dein Leben) bzw. die Prämisse waren dann am Ende etwas zu deutlich. Aber gut geschrieben.


James Yu: In the Space of Twelve Minutes

"I unpacked my wife's avatar on a smoggy Beijing morning. She lay naked on the floor of our apartment, her hair fanned out and mingling wiht the packing peanut afterbirth that had spilled from the box. Not quite the reunion I expected."

Alles klar, oder? Wenn so der erste Satz ist, kann man ruhig weiterlesen. Ich war dann von der Geschichte auch schwer begeistert. Mein Highlight der Ausgabe.

Claire, so ist der Name seiner Frau und sie ist bei einer zweijährigen Expedition auf dem Mars, hat dort einen Avatar von ihm dabei. Der Ich-Erzähler Reuben hingegen forscht auf der Erde nach Planet 9 und schlägt sich mit dem Avatar seiner Frau herum. Anfänglich wirkt vieles davon anstrengend und oftmals habe ich den Eindruck, er wäre ohne den Avatar besser dran und ich frage mich: Kann er den nicht aus ausschalten?

Aber nein, kann er nicht. Er soll den Avatar auch so behandeln, als handle es sich um Claire selber. Das bekommt er nicht so ganz hin und es zeigen sich auch Unterschiede in den Charakteren und auch in der Art der Beziehung, wobei nach einer Weile die Beziehung zu dem Avatar mir fast die bessere zu sein scheint. Es steht mehr als nur zwischen den Zeilen, dass er und Claire kaum Zeit miteinander verbracht haben, weil sie nur gearbeitet hatten und abends todmüde ins Bett gefallen sind. 

Es wird gut erklärt, warum diese Idee zu den Avataren für langjährige Missionen kam und auch sonst war der Plot sehr interessant, am Ende die Auflösung logisch, wenn auch vielleicht ein bisschen zu konfliktarm.

Richtig gut war der leise Humor. 

So zieht sich an einer Stelle Claires Avatar wütend zurück und macht Push-Ups im Schlafzimmer. Claire hat das wohl immer gemacht und auch ständig trainiert für ihre Einsätze. Der Ich-Erzähler denkt daraufhin:

"For Claire, her training regiment was her only solace. I knew better thatn to get in her way. I just wasn't sure what the avatar was training for."

Die jeweiligen wissenschaftlichen Aufgaben von Claire und auch dem Erzähler Reuben haben mir gut gefallen und waren auf genau die richtige Menge ausformuliert. Tolle Geschichte!

Alle enthaltenden Geschichten und Artikel

Phantastische Kurzprosa:

  • T. Kingfisher: Metal like Blood in the Dark
  • Samantha Mills: Anchorage
  • Kenneth Schneyer: Laws of Impermanence
  • Lavie Tidhar: Juvenilia
  • Marie Brennan: The City of the Tree
  • James Yu: In the Space of Twelve Minutes
  • Reprint fiction by P. Djèlí Clark: The Mouser of Peter the Great

Außerdem Essays von Del Sandeen, Marissa Lingen, Nibedita Sen, and Christopher Mark Rose, Poetry von Terese Mason Pierre, Beth Cato, Rita Chen, and Lora Gray, interviews with Kenneth Schneyer and Lavie Tidhar by Caroline M. Yoachim, a cover by Christopher Jones, und Editorials von Lynne M. Thomas and Michael Damian Thomas, und Elsa Sjunneson.

 

Besonders in Erinnerung geblieben ist mir der Essay von Del Sandeen über Repräsentation von Schwarzen und Frauen in der SF, Black Lives Matter und phantastische Welten. Das Thema wird ja gerade auch im deutschsprachigen Raum ziemlich beackert. Es gab auch etwas zum Klimawandel und zu Covid, was psychologisch ganz interessant war, wenn auch für mich nicht unbedingt neu.

Wie bin ich zu dem Magazin gekommen?

Eine Short Story darin hat den Hugo Award 2021 für die beste Short Story geholt.

Meine Zukunft mit diesem Magazin

Jap. Neben der Clarkesworld und dem Locus Magazin werde ich auch dieses in meine Abos aufnehmen.

 

Ich bin übrigens beeindruckt davon, wie divers das Team ist! So ist Naomi Day sowohl Queer als auch Schwarz, und Elsa Sjuenneson ist eine taubblinde Hugo und Aurora-Preisträgerin und hier Editor.

Diversität

In der Story von T. Kingfisher gibt es eine nonbinäre Figur. In den Essays geht es vorrangig um Diversität. Vor allem ist mir aufgefallen, wie divers das Team ist, das hinter dem Uncanny Magazine steht.

Harte Fakten

Titel Uncanny Magazine Issue 36 
Erscheinungsjahr 2020 
Anzahl Geschichten
Original Twitter Tweet https://twitter.com/Rezensionsnerd1/status/1487735348708921348
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