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Exodus Ausgabe 44: Science Fiction Stories & Phantastische Grafik

Inhalt

Eine sehr gelungene Ausgabe!

 

Zunächst gebe ich einen kleinen Überblick über die Storys, weiter unten nach einer Warnung dann spoilerbehaftete Betrachtungen einiger ausgewählte Geschichten. 

 

Tostrop, Barbara: Der Wind der neuen Zeit

Influencer:innen in der Zukunft arbeiten zwar nicht mehr mit YouTube, wie in der sogenannten "Vintage-Zeit", sondern mit persönlichen KIs, aber die Aufgabe ist trotzdem dieselbe. Die Ich-Erzählerin soll ihrem Mann den "KlimaCube" schmackhaft machen. Nur schwierig, dass es bezüglich der Kommunikation zwischen den beiden etwas hakt.

 

Stöbe, Norbert: Beetles

Wenn ich jetzt sage, dass mich die Story an 99 Luftballons erinnert, muss ich vermutlich ausholen. Die 99 Luftballons waren ja auch irre harmlos, haben aber trotzdem einen Krieg ausgelöst.

Die Beetles sind auch harmlos (oder?) und lösen eine Apokalypse aus. 

 

Kolbe, Thomas: Auf Sendung

Auf Sendung sind Moderator Jock und Professor Dr. Dr. Dr. Brambonnock. Es ist letzterer, der die eingehenden Anrufe beantwortet. Als er mal kurz einem Bedürfnis nachgeht, muss Jock den Job alleine machen. Kein einfaches Unterfangen! Im Showdown plant ein Anrufer den Kollaps des Multiversums. Oder?

 

Kugler, Hans Jürgen: Flucht aus dem Fluidum

Diese Geschichte lohnt sich ein zweites Mal, weil es mehr Spaß macht, wenn man die Auflösung kennt.

Beim ersten Lesen war ich zunächst ratlos. Es war aber extrem angenehm, als ich die Wendung dann verstanden habe.

Wie bereits an anderer Stelle erwähnt: Ich denke, die absolute Stärke dieses Autors ist das Beschreiben von Szenen. Das kann er richtig, richtig gut. Hier ein Beispiel:

"Das Schiff schüttelte sich, warf sich um die eigene Achse wie ein Lebewesen, das sich in einem Todeskampf befand. Das Panoramadisplay zeigte nur tiefe Dunkelheit. Gewaltige Kräfte rüttelten am Schiff, zerrten an den Schilden."

Die Figuren (zumindest die drei im Raumschiff) bleiben namenlos, was kennzeichnet, dass es nicht um die Figuren geht, sondern es sich hier um klassische SF-Ideenliteratur handelt, bei der die Idee der Protagonist ist. 

 

Grimm, Christoph: Perfect Match

Eine angenehme, witzige Pointenstory, die mir sehr viel Spaß gemacht hat! Die Twists waren jeweils sehr gekonnt vorbereitet. Hier möchte ich am liebsten gar nicht spoilern, um nichts zu verderben.

 

Mira, Aiki: Die Grenze der Welt

Dazu unten mehr, hier mal spoilerfrei:

Die Protagonistin Kat hat lange Zeit auf dem Mond verbracht, mit entsprechenden körperlichen Auswirkungen, weshalb sie auf der Erde nur mithilfe von Maschinen bequem agieren kann. 

Sprachlich herausragend und vielschichtig, mit einigen ungewohnten Stilmitteln, ist diese Geschichte zwar vordergründig traurig, versteckt aber hintergründig aus meiner Sicht eine wichtige, lebensbejahende Botschaft.

 

Fildebrandt, Ulf: Marys Zimmer

Dazu unten mehr, hier mal spoilerfrei:

Auch hier lohnt ein zweites Lesen, denn die Wendungen am Ende werden schon zu Beginn sehr gut vorbereitet. Die Beschreibung der Sinne hat mir Spaß gemacht, das Gedankenexperiment wurde überzeugend in eine tolle Story umgesetzt. Es wimmelt von schönen Details, die mir helfen, mir die Aliens und die fremde Welt gut vorstellen zu können.

Die bisher stärkste Story, die ich von diesem Autor kenne (und er war 2021 bereits mit einer Geschichte in meinen Top-10).

Zur Entstehungsgeschichte hat der Autor sich übrigens bei twitter zu Wort gemeldet.

 

Grohs, Roland: Talion

Dazu unten mehr, hier mal spoilerfrei:

Das Lesen hat mir keinen Spaß gemacht (Erklärung unten). Ich möchte dem Autor attestieren, dass er eine stilistisch einwandfreie Geschichte sehr pointiert und gekonnt aufgebaut hat.

Beim zweiten Lesen ist mir dann aber doch aufgefallen, dass er gern mehr hätte offen lassen dürfen.  Was soll die Botschaft sein?

Fazit: Ich möchte so etwas nicht lesen. 

 

Schattschneider, Peter 42: Milliarden Jahre

Warum ist eigentlich Gregor Samsa damals als Käfer erwacht? Das wurde in Die Verwandlung von Kafka nie erklärt, oder? Hier unternimmt der Autor einen überzeugenden Versuch. Es dauerte für mich etwas, reinzukommen, die Story hat mich erst am Ende überzeugt.

 

Greenman, Moritz: Sehen

Vieles entblättert sich hier erst nach und nach. Es ist eine sehr phantastische Story zur Erkundung von Alien-Artefakten. Zum Glück werden immer wieder sehr menschliche Dinge beschrieben die ich kenne (wie Decke auf dem Sofa klauen), so dass ich eine Chance habe, mich zu ankern. 

 

Brox, Angelika & Tunnat, Yvonne: Minerva

An der Story war ich ja beteiligt. Wer mehr dazu wissen möchte, wie wir gemeinschaftlich schreiben, siehe hier Post #17

Sowohl von Angelika als auch von mir gibt es im Laufe der Zeit auch mehr SF-Kurzprosa, sowohl einzeln als auch gemeinsam. 

 

Hermann, Uwe: Die Nachrichtenmacher

Dazu unten mehr, hier mal spoilerfrei:

Der beste erste Satz der Ausgabe! Toller Protagonist, sehr sympathisch. Die Zeitungen bringen die Nachrichten von morgen, so auch leider seine Todesmeldung. Was also tun? Der Held geht sehr pro-aktiv damit um.

 

Hobusch, Nicole: Typ 4

Eine Postapokalypse mit vielen klassischen Elementen (Supermarkt ausplündern) und vielen schönen Details. Hier ein Beispiel: "Irgendwer hatte Tom liebt Eva in den Schmutz geschrieben." Da steckt einiges an Leerstelle für mich als Leserin drin. In den Schmutz - nicht in den Beton. Also nicht vor dreißig Jahren (so lange ist die Katastrophe nämlich bereits her). Es ist tröstlich zu sehen, dass die Menschen auch in einer Welt wie der hier beschriebenen immer noch solche Trivia verfolgen und sich eine gewisse Art von Verspieltheit bewahrt haben.

Zunächst bietet die Story einen klassischen Plot dieses Subgenres, fügt dem aber recht bald noch eine Komponente dazu, die auch technisch ganz klar SF ist.

Das Ende habe ich so gar nicht kommen sehen!

Sekundärliteratur und Illustrationen

Es gibt ein wenig Lyrik, eine Bildergalerie von Thomas Thiemeyer mit einem Vorwort von Udo Klotz und am Ende noch einen Aufsatz von Peter Schattschneider: "Science-Fiction und das Ende der Aufklärung".

 

Ich bin übrigens ein großer Fan des Bildes auf Seite 17 von Gerd Frey, das finde ich großartig, sehr atmosphärisch.

 

Über die Illustration der Story von Angelika und mir bin ich auch sehr glücklich, vor allem das Alpaka auf Seite 96 ist toll. Ich bin froh, dass genau dieses Motiv gewählt wurde, danke an Jaana Redflower!

Spoilerbehaftete Betrachtungen

Dieser Abschnitt ist für jene gedacht, die die Geschichten schon kennen. 

Das kann ich nicht für jede Geschichte leisten, daher werde ich nur eine Auswahl ausführlicher betrachten.

 

Ich freue mich auf eure Kommentare dazu!

Mira, Aiki: Die Grenze der Welt

Es ist kein Geheimnis, dass ich Fan dieser Autorx bin. Nicht nur ich, wie die Nominierungen von drei Kurzgeschichten aus dem Jahre 2021 beim KLP und DSFP zeigen. 

 

Was mir stets besonders gefällt, ist die Vielschichtigkeit der Texte und die Sprache. So lohnt es sich für mich, die Storys mehrmals zu lesen. 

 

Zum Inhalt:

Kat hat auf dem Mond gearbeitet, als einziger Mensch in einem Team voller Maschinen. Dort hat sie auch einen Krieg miterlebt. 

Nun ist sie zurück vom Mond in Frankfurt am Main und arbeitet in einer "Super-Shell" auf einer Baustelle. Eine Super-Shell ist eine Maschine, die riesig groß ist und nicht von vielen bedient werden kann, daher gibt es wenig geeignetes Personal dafür.

Kats Körper ist durch den langen Aufenthalt auf dem Mond geschwächt, was auch sehr eindringlich geschildert wird, und nur mittels Maschinen kann sie sich auf der Erde bewegen. 

Einiges bleibt im Dunkeln, so lügt Kat ihren Arbeitgeber an, sie würde ihr Gesundheitszeugnis nachreichen, und es wird bereits zuvor kolportiert, dass sie so etwas wohl gar nicht erlangen würde, da sie nicht ganz gesund ist.

 

Während ihrer Arbeit lernt Kat ein Kind kennen, Jakob (wobei das nicht sein echter Name ist, laut seinen Angaben). Es wird recht schnell klar, was Jakob ist und was nicht. 

Jakob ist durch eine Lücke im Bauzaun eingedrungen. Kat sollte die Lücke eigentlich schließen, wird sogar von Jakobs Eltern dazu ermahnt, tut es aber nicht, so dass Jakob weiterhin Zutritt zur Baustelle hat.

Dies führt in der Schlussszene dazu, dass sie gezwungen ist, ein riskantes Manöver mit der Super-Shell durchzuführen, um Jakobs Leben zu retten. Hierbei erleidet sie einen Unfall mit tödlichen Verletzungen.

Während sie im Sterben liegt, öffnet sie sich letztendlich Jakob. Dies ist für Kat ein wichtiger Moment, da sie sich vorher allen verschlossen hat.

Bezeichnend ist, dass Jakob ein Robokind ist, das alles speichert und somit Kats Vermächtnis nicht vergessen wird. Bezeichnend auch, dass es ausgerechnet wieder eine Maschine ist, mit der Kat Freundschaft schließt. 

Am Ende stirbt Kat zwar, doch Jakob ist gerettet und kann seinen Weg gehen.

Der Titel bezieht sich auf ein Thema, das recht spät, aber doch sehr zentral in der Geschichte aufgegriffen wird: Kats Mutter hängt an Maschinen, die abgestellt werden sollen. Dies wird während eines Telefonats von Kats Schwester vermittelt. Kat sieht von einem Besuch zwar ab, erinnert sich aber liebevoll an die Geschichten, die ihre Mutter ihr früher erzählt hat. "Geschichten [ ... ] markieren die Grenze unserer Welt." Dies wird am Ende wieder aufgenommen, als Jakob die tote Kat zurücklässt. Er "sucht seine Geschichte, sucht die Grenze der Welt". Dies tut er, nachdem er Kats Geschichte kennt. Sie hat also etwas in dieser Welt zurückgelassen und das in sehr sicheren Händen, wobei völlig unklar ist, was Jakob daraus machen wird.

 

Die A-Story war für mich: Kat opfert sich für das Kind (Robokind)

B-Story: Kat gibt ihre Einsamkeit auf (indem sie den Spalt im Zaun nicht repariert), verletzt sich dabei tödlich, öffnet sich endlich und bereut dies nicht.

Prämisse: Gib deine Einsamkeit auf, selbst wenn du damit etwas riskierst!

Leitthema: Kats Körper ist schwach, die Maschine verleiht ihr körperliche Stärke, geistige Stärke muss sie aber in sich selber finden.

 

Die Geschichte ist vordergründig traurig, da Kat ja stirbt, aber für mich beherbergt sie eben doch Hoffnung. Wir beobachten vorher Kat in ihrem trostlosen Leben: Nur in der Maschine fühlt sie sich wohl. Sie vermisst den Mond. Sie besucht ihre Familie nicht, schließt keine Freundschaften. Verbirgt auch Dinge (Stichwort Gesundheitszeugnis). Am Ende genießt sie die Freundschaft und auch die Bewunderung von Jakob "Du bist so stark" sogar noch im Sterben. 

Mir fällt außerdem auf, dass es recht oft der Fall ist, dass eine Geschichte dieser Autorx vordergründig traurig oder tragisch ist, aber einiges an Lebensmut und positiven Ereignissen verbirgt. Das war bei Utopie-27 ganz besonders der Fall.

 

Stilistisch und sprachlich ist die Story mehr als einfach nur interessant. Ich erkenne viele Begriffe oder Halbsätze, in denen auffällig viele Worte mit "k" beginnen und frage mich, ob das Absicht war. K wie Kat, was gut passt. So heißt es an einer Stelle "Kats knochiger Körper", Kat wird auch als "Koloss" bezeichnet (natürlich in der Super-Shell). Die letzte Gesundheitsprüfung hat sie vermasselt, wegen "Kopfschmerzen" und "Kurzsichtigkeit". Es "knirscht" auch mal etwas. Oder es kommt zur "Katastrophe".

Dieser Satz ist auch toll: "Als Koloss kauert sie kompakt zusammengefaltet neben der Baugrube."

 

Sehr genau wird ausgeleuchtet, wie geschwächt Kats Körper ist, am besten gefällt mir die Beschreibung "Kats Muskeln geschrumpft, ihre Knochen wie Gummi". Mit dem Stilmittel der Redundanz wird das später noch näher betrachtet, was für mich nicht notwendig gewesen wäre (SF-Fans kennen das ja), aber es war offenbar so wichtig, dass dies betont wird. 

Ebenfalls wichtig ist, dass Kat sich nur in der Maschine "komplett" fühlt. Die Maschine ist mehr als nur ein Werkzeug, sie ist die Extension ihres Körpers, ihr Zuhause (sie wohnt zeitweise in der Super-Shell), ihr Panzer. 

Übernachtet sie doch im Bett, umhüllt sie sich mit Schaumstoffplatten, mit "dem Gefühl von Geborgenheit". 

Die Macht der Super Shell wird auch sehr genau gezeigt, was ja auch für die Unfallszene später wichtig wird. Kommt ein Mensch zu ihr, heißt es "Mit einer Handbewegung könnte sie ihn zerdrücken". Die Probleme mit früheren Modellen werden erläutert, ich hätte das nicht gebraucht, aber es ist sicher für viele auch schön, zu entdecken, wie viel Hintergrund in diesen Maschinen steckt und wie durchdacht der Weltenbau ist.

Angerissen wird das Thema Robo-Feindlichkeit, so ist Kats Chef da ganz klar positioniert:

""Manche heiraten Robos oder adoptieren Roboterkinder." Er spuckt aus, als befände sich in seinem Mund etwas Dreckiges."

Das sagt viel über die Welt aus, offenbar gibt es dort einen neuen "Ismus".

Sehr gut ist auch die Sehnsucht zum Mond beschrieben, selbst über die Gefahren sinniert Kat mit Nostalgie. Besonders schön fand ich die Staubpartikelwolken auf dem Mond, deren "Teilchen so gezackt und schroff sind, dass sie die Lungen zerstören", "Mondstaub fein wie Pulver, aber scharf wie Glas".

In der Begegnung mit dem Robokind Jakob wird das Thema Identität angerissen, jedenfalls lese ich das ein wenig heraus.  Die Mutter hängt an Maschinen (erneut Maschinen!) und diese sollen abgestellt werden. 

Es wird auch recht schnell klar, dass nicht alles daran gemütlich ist, in der Super-Shell zu wohnen, so nimmt Kat einen Stapel Windeln mit. Weil kein Klo drin ist, nehme ich an. Oder ist ihr Körper geschwächter, als ich dachte. Immerhin braucht man für gewisse Dinge ja auch Muskeln. 

Der Spalt im Zaun steht für etwas – ihre Verbindung zur restlichen Welt? Sie erwägt, den Spalt zu schließen und tut dies nicht. Als Konsequenz stirbt sie, aber bevor (oder quasi während) dies geschieht, gewinnt sie einen Freund, stellt die Verbindung zu jemandem her, öffnet sich letztendlich doch. Wäre es denn wirklich besser gewesen, sie hätte den Spalt geschlossen und wäre einsam geblieben?

Ich könnte noch weiterhin Details aufzählen, die mir sehr gefallen haben, wie die Tablettenkrümel, die einen Hustenanfall auslösen. Doch als Faustregel gilt, meine Rezensionen sollten nicht länger werden als die Geschichte, die ich rezensiere. :-)

Fildebrandt, Ulf: Marys Zimmer

Rasch wird klar, das ist eine künstliche Welt, in der sich Yaro, der menschliche Protagonist, befindet: Ein fünfzig Kilometer langer Rotationszylinder.

Dieser wird gekonnt beschrieben, und obwohl ich ja sonst gern traurig bin, wenn es nicht gleich mit der Action und Dialogen losgeht, lasse ich mich hier sofort darauf ein. Vielleicht, weil ich sowieso gerade auf der Suche nach guten SF-Prosabeispielen bin, in denen gute, treffende Beschreibungen der Umgebung geboten werden.

Der Autor nimmt sich in den Anfangspassagen hier viel Zeit, doch es bleibt keineswegs statisch, da sich Yaro bewegt und einen Markt überquert. Dort gibt es Vögel, Fische, Lebensmittel, Allerlei. Yaro nimmt dies mit allen Sinnen auf, was dem Leitthema der Story bereits entspricht, auch wenn ich das beim ersten Lesen noch nicht wissen kann. 

Jammern auf ganz hohem Niveau: Auf S. 39 ganz unten wird gesagt "Stimmen, Schreie, Summen und alle möglichen anderen Geräusche erfüllen die Luft, ..."

Welche Geräusche genau? Hier hätte mir Pars pro Toto gefallen. Gleiches bei den Gerüchen, wobei es da schon angenehm konkret wird.

Noch anschaulicher werden dann die Fische beschrieben, richtig beeindruckt war ich bei der "sinnverwirrenden Abfolge", mit der sie ihre Flossen bewegten. Da kriege ich richtig Kino im Kopf. Großartig!

Vermutlich versehentlich "huscht" Yaro mehr als einmal "ein Lächeln über das Gesicht". Oder auch dass er einen Job "ergattert" hat (Ich kenne das, wenn trotz sorgfältiger Überarbeitung so etwas geschieht.)

Yaro hat eine KI, Soul, doch die beiden kennen sich noch nicht so gut. Das wird in der Kommunikation mehr als deutlich. Schönes Nebenthema, das später auch noch wichtig wird.

Der Protagonist ist Arzt, hat Exomedizin studiert und beginnt nun einen ersten Tag in der Klinik. Sofort muss er notfallmäßig Glimmer (Aliens) behandeln, die psychoaktiv sind. Das wurde nicht vorbereitet, ich merke aber rasch, dass es nicht um die Glimmer geht, die sind nur die Auslöser für das, worum es eigentlich geht. 

Das zeigt sich auch recht bald, zunächst nur in Andeutungen "er verstand nicht, warum die Töne, die sie von sich gab, die Farbe des Tisches verändern sollten."

Doch Yaros Sinneseindrücke sind nicht mehr, wie sie waren, sie sind viel mehr, er kann Töne sehen und Geräusche schmecken. "Die Farben schmeckten süßlich auf seiner Zunge."

Das ist zwar vielleicht nicht neu, wird aber gut aufgebaut und gezeigt. Er jedoch ist überfordert von den Änderungen und glaubt, dies würde sich legen, wenn er den Ort wieder verlässt und zur Erde zurückkehrt. Sein Fluchtwunsch ist verständlich, wird aber vereitelt; seine neue Chefin fängt ihn ab und erklärt ihm, was mit ihm geschehen ist. Das Gedankenexperiment Marys Zimmer war mir entweder neu oder ich habe es wieder vergessen, das hat mir gut gefallen als Basis für eine Story. 

Der Schlusssatz enthält eine Wendung, die gut zum Thema der Story passt; die "dröhnende Weite des Weltalls", was für ein schönes Bild!

Ich frage mich nach dem Lesen, ob ich mir das auch wünsche und inwieweit diese Synästhesie meine Welt ändern würde. So ganz bin ich noch nicht eingesackt. Würde mir das ein Mehr an Informationen bringen, oder würde es nur einfach eine neue Qualität für meine Sinne bedeuten? Vermutlich "nur" letzteres, aber das ist auch absolut bemerkenswert. Ich werde demnächst mal ersteres untersuchen in eigener Prosa, auch wenn das natürlich keineswegs neu ist.

Grohs, Roland: Talion

Normalerweise betrachte ich Geschichten näher, die mir gefallen haben, und untersuche, warum sie mir gefallen haben.

Diese hier hat mir nicht gefallen und ich möchte untersuchen, warum sie mir nicht gefallen hat.

Es liegt hier nicht am Schreibstil oder Aufbau oder der gewählten Form. Es wurde auch nicht experimentiert (was ja manchmal über meinen Kopf geht oder mich nervt). 

Im Gegenteil, einige Kniffe gefallen mir rein formal sehr gut. So wird einiges offen gelassen. Gleich zu Beginn gibt es ein Stück Dialog "Ich habe in nur zwei Sekunden fertig geraucht! Hatte keine Ahnung, dass dort Rauchverbot ist" und es wird nicht gesagt, wer da spricht, die Hauptfigur Lex oder die junge Frau, die Delinquentin. Da stocke ich, stelle aber fest, ja, es war die Delinquentin. Sie hat geraucht, trotz Verbot, Lex vom Ministerium für Legistische Kompensation kommt und raucht dann ebenfalls. Schräg, aber man ahnt schon, worum es geht. Bei diesen Kleinvergehen bleibt es natürlich nicht.

Die nächste Szene (bzw. der nächste Kompensations-Auftrag) ist besonders unangenehm, weil eine Vergewaltigung kompensiert bzw. gleiches mit gleichem vergolten wird. Beim ersten Lesen dachte ich, es sei subtil, weil der Begriff nicht genannt wird, bei näherer Untersuchung stelle ich fest, dass es deutlich subtiler hätte sein können, "Kondom" ist doch sehr eindeutig, "Vaseline" zu erwähnen wäre nicht nötig gewesen. Es wird eben doch ein bisschen zu sehr die Kamera drauf gehalten, trotz der Leerstellen. 

Die dritte Szene ist dann schon keineswegs mehr subtil, das Vergehen wird klar benannt, "erwürgen". Hier steht dann einfach nur da, was geschieht, auch wenn uns Details erspart bleiben. Das ist dann auch nicht mehr literarisch versteckt, es heißt: "nach zwei Minuten hatte der Delinquent keinen Puls mehr". 

Ich bin auf der Suche nach Hinweisen, dass Lex seine Arbeit genießt oder eine sadistische Ader hat, finde aber nichts. Immerhin. Es wird gesagt, er habe ein "ungutes Gefühl" und auch, dass er "hundemüde" sei und "nur noch nach Hause" wollte. 

In der vierten und zum Glück letzten Szene dieser Art geht es um zwei ausgeschlagene Zähne. Eine Frau wird beschrieben und als Retardient bezeichnet. So etwas über einen Menschen zu sagen/ zu schreiben, ist nicht schön. Später stelle ich (erleichtert?) fest, es handelt sich bei der Frau um einen Homo Sapiens und bei Lex nun einmal nicht (sondern offenbar um einen Homo Sapientor). Die Sicht ist also keinesfalls aus der unseren, jemand schaut auf uns und empfindet uns (als Homo Sapiens) als retardiert. 

Vier Szenen? Ich hatte es bei der zweiten verstanden. Die vierte ist natürlich wichtig, weil wir nur noch Lex' Standpunkt zu den Homo Sapiens (den Retardierten) kennenlernen. Die ersten drei steigern sich ein wenig, das ist richtig, und die Geschichte ist ja sehr kurz, die kürzeste der Ausgabe. Trotzdem glaube ich, dass vier Szenen nicht notwendig gewesen wären, ich persönlich hätte die Vergewaltigung herausgenommen. Und ja, auch das Erwürgen hat mir nicht gefallen, zumal die Szene rein stilistisch die schlechteste war und Gewalt an Kindern möchte ich mir als Mutter zweier sehr kleiner Kinder auch nicht genauer vorstellen. 

"Wir ernten, was wir säen" habe ich als redundant und als Überbetonung von "Handlungen haben Konsequenzen" empfunden. Der ganze Text fokussiert darauf, eine Erklärung (auch im Dialog) ist unnötig.

Der Sohn der Frau, der Delinquent, wird als "Mischling" bezeichnet, was ich mit Rassismus assoziiere. Wäre nicht auch "Hybrid" gegangen oder ein anderer Begriff, der nicht so belegt ist? Oder ist das Absicht? Wenn ja, zu welchem Zweck?

Immerhin, Lex schlägt versehentlich drei Zähne aus statt nur zwei und muss konsequenterweise auch einen hergeben.

Am Ende kommt das Anti-Speziesismus-Gesetz durch, die Homo Sapiens Sapiens und Homo Sapientor werden einander gleichstellt.

 

Fazit: Die Story ist nicht so subtil und geschickt aufgebaut wie ich beim ersten Lesen noch gedacht habe. Beim zweiten, deutlich ruhigeren Lesen fällt mir dann doch einiges auf, was zu klar oder gar plakativ geraten ist. Schöner wäre es gewesen, wenn ich erst in der Schlussszene verstanden hätte, was hier läuft. Ich wurde aber durch die Deutlichkeit um ein gutes Aha-Erlebnis gebracht. Dies kommt meiner Meinung nach zu früh und was danach an Gewalt kommt, empfinde ich daher als too much. 

Der Schluss ist auch weniger befriedigend als ich zunächst dachte. Welche Konsequenz hat diese Gleichstellung nun? Was bedeutet das für Lex?

 

Lex wird zwar nicht so geschildert, dass er diese Taten genießt, aber das fällt kaum auf, da ihm jede Empathie fehlt. Ich habe beim zweiten Lesen nach Stellen gesucht, die ihn als Sadist darstellen können: Es gibt keine. Es steht ganz eindeutig nicht im Text. Trotzdem kam es mir so vor, eben weil er so gefühllos und unbeteiligt geschildert wird. 

 

Werden hier nicht zwei Themen vermischt und das nur auf drei Seiten? Die Kompensationsworkflows UND die neue Menschenart bzw. die Abwertung der jetzt aktuellen Menschenart (uns)? Wieso wird das vermischt? 

 

Und was will mir diese Geschichte sagen? A-Story: In der Zukunft dieser Story wird Gleiches mit Gleichem vergolten. Das ist dann Gesetz. Auf sehr kurzem Dienstweg, so scheint es mir. Das wird nicht bewertet, die Bewertung wird komplett uns überlassen. Lex tut seinen Job, zeigt aber auch nicht, dass er das irgendwie genießt, eher das Gegenteil wird leise angedeutet. Wie wir Lesende das bewerten, sollte klar sein: Wir verurteilen diese Kompensationsworkflows.

Aber ist das nicht klar? Ist das etwas, das wir durch diese Geschichte lernen müssen? Ich werde durch die Geschichte nicht verändert. Ich werde angeekelt ja, aber nicht von etwas, das mir noch nicht klar war. 

Dass mal eine andere Sorte Homo kommen könnte, der uns voraus ist, ist jetzt auch nichts Neues und inwiefern sollte mir das etwas sagen, dass diese Sorte Homo dann in dieser Art Recht spricht? 

Was wäre also die B-Story? Spielt die sich in meinem Kopf ab?

Und die Prämisse? Zahn um Zahn taugt nichts? Aber hat die Stelle in der Bibel nicht eigentlich aussagen wollen, dass man nicht übertrieben, sondern angemessen reagieren soll? (Gut, ich bin nicht so bibelfest.)

Warum also musste ich diese Geschichte lesen?

 

Nehmen wir mal NSA von Andreas Eschbach, das habe ich jetzt auch nicht unbedingt gern gelesen, aber es war Warn-SF vom Feinsten, und die Botschaft war gut verpackt und trotzdem sehr klar.  Das war ein wichtiges Buch. 

 

Mir ist völlig klar, dass nicht alle Storys mich verändert zurücklassen oder dies müssen. Aber wenn ich etwas derart Unangenehmes lesen soll, dann möchte ich auch, dass es irgendeinen Zweck hatte. So habe ich nur das Gefühl, dass ich zweimal unschöne fünfzehn Minuten hatte, und wozu?

Hermann, Uwe: Die Nachrichtenmacher

Diese Story gewinnt den Preis für den besten ersten Satz:

"Ich erfuhr von meinem Tod an einem Donnerstag um kurz nach sieben." 

Dann gerät das erzählende Ich erst einmal in den Hintergrund. Es wird entblättert, dass er von seinem Tod in der Zeitung erfahren hat, die immer nur erzählt, was am nächsten Tag passieren wird. Seine Familie erfährt auch davon und reagiert sehr unterschiedlich. Die Zwillingstöchter und die jüngste Tochter Laura sind voller Schock, Trauer und Liebe, die Frau Nadja zunächst auch, berappelt sich aber erstaunlich schnell.

Ein bisschen schade finde ich hier, dass oft auf bereits bekannte Bilder zurückgegriffen wird, wie "meine Kehle schnürte sich zu". Ich persönlich lese lieber neue Vergleiche und Metaphern, weil die mehr Effekt auf mich haben. 

Nachdem Nadjas erste Reaktion von Schock und Trauer überstanden ist, gerät sie in einen Aktionsmodus, der sowohl realistische Übersprungshandlung als auch leichte Satire sein könnte. Beide Lesarten gefallen mir.

Zunächst nimmt Nadja die Organisation der Beerdigung in die Hand und spannt dabei auch die Zwillinge ein, Laura muss zur Schule (was uns einiges an sehr authentischem Dialog beschert). Der arme Mann hat gar nicht mitzureden. Irgendwann ist er endlich alleine und beginnt, sich proaktiv mit der Meldung zu befassen. Das tut er mit bemerkenswert gut organisiertem Kopf und bleibt dabei doch stets glaubwürdig verstört.

Er findet heraus, wer hinter dem Future-News-Verlag steckt, und sucht diese Person, Aaron Huber, auf.  Zwischendurch gibt es noch Kontakt zu seinem Arbeitskollegen.

 

In einem Podcast mit Uwe Post sagte Uwe Hermann mal, man könnte Figuren in Kurzgeschichten nicht so plastisch und sympathisch machen. Doch, Uwe. Kann man. Hast du hier geschafft. Ich mag den Ich-Erzähler sehr schnell sehr gern und möchte, dass er überlebt.

 

Die Spannung wird dann auch lange gut gehalten. Diese wird leider kurz vor dem Ende mit der Bekanntgabe des Artikels, den Aaron und die Hauptfigur geschrieben haben, auf nicht ganz so befriedigende Art und Weise gelöst. Da hätte ich mir einen anderen Abschluss gewünscht (auch im Wissen, dass es irre schwer ist, eine gute Pointe zu finden). Trotzdem halte ich diese Story für lesenswert und sehr gut und angenehm geschrieben und freue mich immer, wenn ich eine Short Story von Uwe Hermann entdecke, weil ich diese bisher stets sehr gern gelesen habe.

Rezeption

Alle enthaltenen Geschichten

Ostrop, Barbara: Der Wind der neuen Zeit

Stöbe, Norbert: Beetles

Kolbe, Thomas: Auf Sendung

Kugler, Hans Jürgen: Flucht aus dem Fluidum

Grimm, Christoph: Perfect Match

Mira, Aiki: Die Grenze der Welt

Fildebrandt, Ulf: Marys Zimmer

Grohs, Roland: Talion

Schattschneider, Peter: 42 Milliarden Jahre

Greenman, Moritz: Sehen

Brox, Angelika & Tunnat, Yvonne: Minerva

Hermann, Uwe: Die Nachrichtenmacher

Hobusch, Nicole: Typ 4

Harte Fakten

Titel Exodus Ausgabe 44 
herausgegeben von René Moreau, Heinz Wipperfürth, Hans Jürgen Kugler  
Verlag Selbstverlag 
Rezensionsexemplar Das habe ich seit 2020 im Abo 
Erscheinungsjahr 2022 
Seitenzahl 120 
Anzahl Geschichten 13 
Original Twitter Tweet https://twitter.com/Rezensionsnerd1/status/1522131574627704833 
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