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Pinocchio Photography -Short Story von Angela Liu (Clarkesworld 198)

Ich bin immer nach der Suche nach richtig großartigen Kurzgeschichten und meine übliche Strategie dafür lautet:

 

Die Rezensionen im Locus Magazine lesen.

 

Danach die entsprechenden Kurzgeschichten oder Romane kaufen und lesen.

 

Recht häufig habe ich damit Erfolg. So auch hier. Angela Liu war mir noch von einer anderen Story positiv in Erinnerung geblieben, leider erinnere ich mich mehr daran, welche das war. 

Pinocchio Photography

Das phantastische Element der Kurzgeschichte ist gewöhnungsbedürftig. Hier wird es durch eine Technologie möglich, noch einmal etwas Zeit mit kürzlich Verstorbenen zu verbringen, ein kurzes Wiederauferstehen, hier zu dem Zweck, noch Fotos mit dem geliebten Menschen schießen zu können.

Eine ähnliche Technologie, aber zu vollkommen anderen Zweck (Verbrechensaufklärung) habe ich mal bei Greg Egan in seinem Roman Qual gelesen.

 

Zwei Stunden. So lange hat man Zeit. Dann ist es endgültig vorbei. Die Ich-Erzählerin Miss Chem ist zunächst als Studentin Teil der Handlung, wobei absehbar ist, dass sie im Laufe der Story ebenfalls zu einer trauernden Angehörigen werden wird und es ist auch rasch klar, wen sie verlieren wird. 

 

Der Alltag mit ihrem Vater wird schön gezeigt, vor allem anhand der Rituale und Seltsamkeiten, die die beiden verbindet:

"We've kept up this morning ritual of bad riddles for over ten years; the tremor's only been there for the past two."

 

Auch die Umgebung wird so schön beschrieben, ich mag diesen Satz sehr:

"Our tiny kitchen is blindingly bright for exactly one hour a day, the rest of the time we might as well be vampires."

 

Die emotionale Nähe der Ich-Erzählerin zu ihrem Vater wird mit wenigen Sätzen effizient gezeichnet und überzeugt umgehend.

 

Der "technische" (erklärende) Teil bleibt etwas vager, doch ich habe genügend Informationen, um damit gut arbeiten zu können. So heißt es, dass die Seele 49 Tage braucht, um den Körper endgültig zu verlassen. Ich glaube das zwar persönlich nicht, kann aber diesen Fakt innerhalb der Welt dieser Kurzgeschichte gut akzeptieren.

 

Interessant ist, dass die Erzählerin stets "After-Death"-Menschen von ihrem Professor präsentiert bekommt, hier also beruflich Erfahrungen sammelt, bevor sie dies persönlich tun muss. Schön auch, wie der Professor auf Einzelheiten im Verhalten, in der Bewegung der Menschen hinweist, "little details that add an element of reality", fast, als würde  es um Prosa an sich gehen.

Ein Detail, das sehr überzeugt hat: Man kann mit den Toten nicht sprechen. "Like in life, the tongue muscle is one of the hardest to control."

 

A propos Details, die Authentizität erschaffen, plus ein kleines bisschen an sprachlicher Finesse:

"She picks out the broccoli from her cafeteria stir fry and quarantines it into a corner of her plate."

 

Selbstverständlich gibt die Story auch Raum für richtige Schrägheiten her:

 

"I know but I have a client now who wants a photo of her baby playing with the dead dad. Apparently, he had an accident during a business trip and never made it home to see his newborn daughter."

Ist sowas wirklich tröstlich? Die Story nimmt keine Stellung, überlässt es mir. 

 

Richtig gut fand ich aber folgende Szene, als die Erzählerin sich Fotos anschaut, die sie auf dem Dachboden findet. Die Gedanken, die sie beim Anschauen der Bilder hat, sind so naheliegend, so echt, und trotzdem waren sie mir selbst nie gekommen:

 

"I squint at the photos, wanting to see what happened before or after each moment, to catch a glimpse of my mom and dad when they were younger, frazzled first-time parents, but there's nothing but the still image in my hands. I'm overcome with a sense of loss. All these photos were taken before the introduction of hippocampal film. How did people ever think they could capture a memory with just a single still image?"

 

Steckt da nicht auch die B-Story drin? Was genau möchte man denn mit Bildern mit Toten erreichen? Klappt das überhaupt? Was genau möchten wir eigentlich heutzutage mit Fotos und Videos erreichen? Machen wir uns nicht eher bewusst, was wir verloren haben, was mal war, erzeugt das Anschauen alter Bilder das Gefühl von Verlust, Verlust von Menschen, die auf den Bildern noch bei uns waren, heute aber nicht mehr, der Verlust der damaligen Jugend, die heute nicht mehr mit uns ist?

 

Der Schluss mag naheliegend sein, aber alles andere hätte auch enttäuscht.

 

Ich kann nur ein Bruchteil von dem wiedergeben, was diese Story aussagt und dem Lesenden bringt. Sie ist eines der besten Beispiele, was moderne SF kann, was moderne SF über Menschen, Menschlichkeit und menschliche Wünsche sagen kann. Da steht Angela Liu ihrem Namensvetter Ken Liu (der mich überhaupt erst zur SF bewegt hat) in nichts nach.

 

Mehr davon!

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