· 

Luftschlösser von Hilary Leichter im Arche Verlag

Luftschlösser ist 2024 im Arche Verlag erschienen, übersetzt von Gregor Runge.

 

Das Original, Terrace Story, hatte ich im Herbst 2023 bereits gelesen und rezensiert. Umso mehr freue ich mich, dass die Geschichte jetzt auch auf Deutsch vorliegt.

 

Der Roman ist eher kurz, zweihundert Seiten, und besteht aus vier Teilen:

  1. Terrasse (original: Terrace)
  2. Staffage (Folly)
  3. Festung (Fortress)
  4. Ausleger (Cantilever)

Was mir auf Englisch nicht gleich aufgefallen sind: Das sind ja (bis auf Teil 2) alles Verortungen. Das ergibt viel Sinn. 

 

Mittlerweile hatte ich das Hörbuch auf Englisch gehört, so dass die deutsche Übersetzung mein dritter Durchgang des Romans darstellt. Es macht viel Spaß, sich so intensiv mit diesem Buch auseinander zu setzen.

 

Trotz allem ist Teil 2 immer noch der Teil, der ein wenig an mir vorbeigeht. Was könnte ich da wohl verpasst haben? Aber der Reihe nach.

Terrasse

Eigentlich wird schon auf der ersten Seite angedeutet, was die Hauptidee dieses Teils ist. Edward und Annie müssen in eine kleinere Wohnung ziehen.  Edward versucht, Annie zu trösten, dass die Wohnung ihr wohl noch ans Herz wachsen würde.

Annie: "Willst du damit sagen, sie könnte buchstäblich wachsen?"

 

Vier Seiten später tut sie genau das, als Annies Arbeitskollegin Stephanie, die zum Abendessen eingeladen ist, eine Tür öffnet, die eigentlich zu einem kleinen Schrank führt und sich dahinter eine wundervolle Terrasse offenbart.

 

Neben dem phantastischen Aspekt dieser Terrasse (wo kommt sie her, warum, und wieso kann nur Stephanie sie auftauchen lassen?) gibt es subtil eine ganze Menge mehr in diesem Teil.

 

So bekommen Annie und Edward ein Kind, und als Annie danach wieder zur Arbeit zurückkehrt, wurde ihre Schlüsselkarte deaktiviert. Solche kleinen Erlebnisse kennen wohl viele, die in Elternzeit oder Mutterschaftsurlaub waren und zur Arbeit zurückkommen. Trotz aller Mühe scheint sich immer die Welt in der Abwesenheit ein wenig weitergedreht zu haben und das Gefühl, etwas verpasst zu haben, stellt sich ein.

 

In Annies Fall geht dies viel weiter, da nach und nach Stephanie immer mehr von ihrer Arbeit machen soll.

 

Der Höhepunkt der Unverschämtheit von Annies Arbeitgeber ist für mich erreicht, als sie nach ihrer Kündigung eine Email mit den Worten enthält:

"Offen gestanden hatten wir schon länger den Eindruck, dass du nicht richtig bei der Sache bist."

Ach? Mit kleinem Baby zu Hause? Schön eingefangen, auch wenn es darum nicht primär geht.

 

Dieser Teil hat eine wirklich böse Pointe, die in vielerlei Hinsicht wichtig und entscheidend für die Geschichten in Teil 3 und 4 ist.

 

 

Die Wahl des deutschen Titels offenbart sich in Teil 1.

 

"Annie und Edward nannten diese Geschichten Terrassengeschichten, denn wenn man sich an einem Ort aufhält, der nicht wirklich existiert, darf man dort so viele Luftschlösser bauen, wie man will."

 

Annie und Edward haben schon vorher Dingen ihre eigenen Namen gegeben. So heißen die erfundenen Geschichten "Terrassengeschichten", was im Original ja auch (in der Einzahl) den Titel darstellt.

 

Interessanterweise hatte ich mir dieselbe Stelle auch im englischen Original markiert:

 

"Annie and Edward called these Terrace Stories, because when you are in a place that does not really exist, you can poulate it with as many fables and legens as you like."

Staffage

Zu Beginn des Teils haben sich die meisten Lesenden sicher noch nicht vom Ende des ersten Teils erholt, der schon ziemlich reinknallt.

 

Dieser Teil spielt auch zeitlich vorher, was in diesem Moment nicht unbedingt die erste Priorität auf der Neugier-Liste steht, denn sicher wollen alle wissen, was denn zeitlich NACH Teil 1 geschieht, nicht vor Annies Geburt oder als Annie ein Kind war. Hier geht es nämlich um Annies Eltern.

 

Einiges daran ist sehr weird und unheimlich. Beispielsweise sind die beiden, George und Lydia, bei einer Beerdigung und erinnern sich nicht daran, wer gestorben ist.

 

"Sie konnten sich ums Verrecken nicht daran erinnern, wer gestorben war."

 

Sowas passiert nicht wirklich. Wer mal versucht hat, in Leichters Erstling (Temporary, inzwischen auch übersetzt mit Die Hauptsache, ebenfalls beim Arche Verlag) reinzulesen, weiß, dass die Autorin Weirdness nicht ganz abgeneigt ist.

 

In Teil 1 wurden ja schon ausgestorbene Tiere angedeutet oder direkt erwähnt (u. a. Flughörnchen, die mir aus dieser mir bekannten Welt nicht bekannt sind), hier sind Kröten ausgestorben. Das Thema ausgestorbener Tiere ist in allen Teilen wichtig und zieht sich durch den gesamten Roman. 

 

Später trennen sich Annies Eltern, noch später sterben sie auch.

 

Der Schluss dieser Episode hat einen Klang, der mich fast verstehen lässt. worum es hier eigentlich geht - aber nur fast. Ein viertes Mal lesen? Die Autorin interviewen? Am besten beides!

Festung

Teil 1 mag die böseste Pointe haben, aber Teil 3, aus der Sicht von Stephanie erzählt, hat die tragischsten Momente und die allerbesten phantastischen Ideen. 

 

Hier bildet sich auch aus meiner Sicht die Prämisse aus: 

Wenn ich irgendwo etwas hinzufügen kann (sagen wir mal, eine tolle Terrasse), nehme ich dann dafür woanders etwas weg?

 

Und gilt das auch für Glück?

 

Stephanies Fähigkeit und ihre Geschichte, ihre Einsamkeit, ihre Momente von Nicht-Einsamkeit, das hat mich stark berührt. 

 

Der Schluss, die Mündung von Stephanies Leben, das Ende dieses Teils, das war für mich sehr rund, sehr richtig. 

Ausleger

Konnte man bis hierhin streiten, ob es sich denn um Science Fiction handele oder doch vielmehr um Phantastik (wobei Teil 3 schon sehr viele SF-Momente hat), ist es hier nicht mehr strittig.

 

Es spielt in der Zukunft, es gibt alternative Welten (und das Reisen dazwischen) und Menschen leben und arbeiten im Orbit. 

 

Hier ist Rosie die Erzählerin, die in Teil 1 noch das Baby von Edward und Annie war. Rosie ist längst erwachsen und mit ihrer Frau, Kyle, verheiratet. 

 

 

Nachfolgender Text beinhaltet einen Spoiler zu Teil 1 des Romans:

 

 

Rosie bekommt unvermutet Besuch von einer älteren Frau, vorgeblich, um sich von Rosie befragen zu lassen. Rosie hat den Job, zu entscheiden, wer an einem speziellen Projekt teilnehmen darf.

 

Es wird rasch klar, wer die Frau ist und was Rosie für sie bedeutet. Während das Ende von Teil 1 bedeutete, dass Annie von ihrem Baby getrennt wurde, findet sie diese in Teil 4 wieder. 

Egal wie oft ich es lese, es trifft mich doch immer wieder.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0