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damit: Anthologie herausgegeben von Magret Kindermann

Klappentext:

Was machst du gerade?

Nichts.

 

Elf Autor*innen schreiben über das, was den Alltag besonders macht. Diese Anthologie erinnert uns an den Zauber der gewöhnlichen Tage, der in großen Romanen viel zu häufig keinen Platz findet.

 

Elf Kurzgeschichten über den Alltag lassen sich nicht gut so rezensieren, wie ich es sonst mache, da es in den meisten Geschichten um nichts Bestimmtes geht. Am besten würde eine klassische Rezension für "Unbekannter Anrufer" von Herbert Glaser funktionieren. Die Protagonistin Inge erhält eine SMS mit den Worten "Ich liebe dich!" von einer unbekannten Nummer. Sie antwortet und es stellt sich heraus, dass ein ihr fremder Geschäftsmann sich sowohl mit dem Text als auch der Nummer vertan hat - sie kommen ins Gespräch und verabreden ein Treffen. Nicht der klassische Anfang einer Liebesgeschichte (dann hätte es wohl auch nicht in diese Anthologie gepasst), aber vielleicht durchaus der Anfang von etwas. Auf jeden Fall ein Stück Leben eingefangen, sehr schön geschrieben mit überzeugenden Dialogen und die Figuren trotz der Kürze lebendig und plastisch charakterisiert.

 

Michael Leuchtenberger schildert in "Die Kapsel" eine Autofahrt aus der Sicht eines Jungen. Die kindliche Perspektive ist absolut gelungen und hat mich in ähnliche Situationen aus meiner Vergangenheit zurückversetzt, oder auch in meine Gegenwart, wenn unsere Kinder mit uns Auto fahren. Wie nimmt ein Kind Autofahren wahr? Im Unterschied zum Verweilen in bekannten Räumen? Was fühlt, riecht, hört, sieht er? Als Kind ist vieles noch so neu. Der Autor fängt hier bemerkenswerte Details auf und bietet mir das in einer so angenehmen Sprache dar, dass ich es nur genießen kann: und das obwohl, oder vielleicht sogar weil, nichts passiert. Ich genieße den Text vermutlich ungefähr so, wie der Junge die Autofahrt genießt, was in dieser Passage besonders deutlich wird:

"Könnten seine Eltern nicht einen Umweg fahren? Wollen sie nicht auch mehr davon sehen? Aber der Junge weiß, dass man nicht einfach in der Gegend herumfährt, weil einem Laternen gefallen. Man fährt nach Hause."

 

Mittlerweile habe ich den Text von Catherine Strefford, "Ein Guter Tag zum Liegen" ein zweites Mal gelesen und mir sind einige Dinge aufgefallen, die ich bim ersten Mal nicht so stark bemerkt habe. Obwohl der Text hier bei "Slice of Life" eingereicht wurde, hätte er auch zu "Dahinter / Mehrere Ebenen" gepasst. Hier findet Pauline im eisigen November Alma auf dem Rasen liegen, und zwar auf einem Stück, das sehr gern von Hunden "benutzt" wird. Die A-Story ist die Dynamik zwischen den beiden Frauen. Aufgrund ihres Gesprächs miteinander wird klar, dass sie sich kennen und eine (vielleicht schräge?) Vergangenheit haben. Oftmals scheint Alma geradezu Pauline Gedanken lesen zu können, was dafür spräche, dass sie sich sogar sehr gut kennen. Dann stellt sich aber heraus, dass Alma noch nie in Paulines Wohnung war. Als sie sie dann hineinbittet, darf aber Alma gleich baden. Auf angenehme Art und Weise schräg. Ich frage mich beim Lesen die ganze Zeit, was das wohl für eine Beziehung ist, die die beiden haben. Dazu die tollen Bilder, wie das gefrorene Gras, das sie pikst wie ein Nadelbett. Oder das Bild "während eines Liegestützes zusammengebrochen". 

Am Ende steht dann Pauline in ihrer Küche und Alma badet nebenan. Pauline wird sich der Anstrengung des Stehens bewusst, was in dem Moment extrem glaubwürdig geschildert wird. Sie legt sich auf dem Küchenboden. Durch die ungewöhnliche Perspektive nimmt sie ihre Umgebung ganz anders wahr. Die B-Story kommt zum Tragen: In jedem Detail steckt Leben. Sich an ungewöhnlichen Orten hinzulegen und somit die Perspektive zu ändern, lenkt den Fokus frisch auf die Dinge, sie fühlen sich neu an, anders, werden zum ersten Mal bemerkt, riechen anders, riechen, schmecken, klingen anders. Ich glaube, ich lege mich mal kurz auf den Boden.

 

 

Auch die anderen Texte bieten mir die Schönheit (oder auch manchmal die Schrecklichkeit) des Lebens. Einige machen mir Lust auf Eis. Andere erinnern sofort an das Gefühl, wie es ist, wenn man nicht zugeben mag, dass man schon wach ist. Oder machen mir Lust, rauszugehen und die Katze zu streicheln. Oder zeigen, was so nervig sein kann an Beziehungen. Oder Freundschaften. Es ist, als dürfte ich durch elf Schlüssellöcher gucken. Nur mehr als das. Ich darf auch in die Köpfe gucken. Ohne, dass es eine bestimmte Agenda gibt, einfach nur so. So eine Anthologie habe ich noch nie gelesen. 

 

Auf "Schlaflos" von Charley Queens möchte ich noch einmal gesondert eingehen, weil es die wohl ungewöhnlichste und bemerkenswerteste Geschichte der Anthologie ist. Sie verarbeitet gleich mehrere Themen: Die Schlaflosigkeit von Eltern mit sehr kleinem Kind, Zukunftsängste um ebenjenen Nachwuchs und Trauer um den Verlust eines geliebten Menschen. Wie das im Alltag so ist, manchmal eben auch alles gleichzeitig. Daneben sind die Figuren divers (zwei Männer haben gemeinsam ein Kind, mit dem sie auch dank Magie beide genetisch verwandt sind, außerdem benutzt ein "Großelterteil" ein Neopronomen). Fast wie nebenbei wird hier noch Weltenbau betrieben, denn die Figuren sind keinesfalls rein menschlich. Auch phantastische Wesen haben einen Alltag. Eigentlich nicht verwunderlich, aber darüber hatte ich vorher nie nachgedacht. 

Hintergrund

Man findet sogar noch einen Aufruf zur Einreichung der Geschichten bei twitter (nur der Link zur Seite geht nicht mehr, die Informationen sind nun hier).  Ich selber hatte das damals auch bei twitter gesehen und eingereicht (ich bin bei den anderen beiden Teilen der Trilogie dabei).

 

Später folgen die anderen beiden Teile, "dahinter" und "damit". Bei "dahinter" geht es um Geschichten, die eine zweite Ebene, eine versteckte Bedeutung haben und bei "damit" geht es um Sex, wobei die Erotik hier nicht im Vordergrund stehen soll. Ich bin schon sehr gespannt auf die beiden Anthologien.

Zu den Autor:innen

Michael Leuchtenberger war einer meiner ersten twitter-Follower:innen (womöglich sogar der allererste). In dieser Anthologie habe ich übrigens zum ersten Mal (endlich!) Prosa von ihm gelesen.

  

Catherine Strefford ist ebenfalls bei twitter, übrigens hat sie bei dieser Anthologie den Buchsatz gemacht und es ist sehr hübsch geworden.

 

Lily Magdalen hat ebenfalls einen sehr aktiven twitter-Account.

 

Ela Bellcut habe ich dank dieser Anthologie nun bei twitter entdeckt. Das gleiche gilt für Nika Sachs und Charley Queens.

 

Alex Prun habe ich dank dieser Anthologie nun auch bei twitter entdeckt (bzw. gezeigt bekommen).

 

Katharina Stein ist ab und zu ebenfalls bei twitter unterwegs, Vanessa Glau auch.

 

Herbert Glaser ist zwar nicht bei twitter, aber ich kenne ihn vom Schreiblust-Verlag und kannte seine Prosa daher schon vorher. 

 

Die hohe Trefferquote bei twitter liegt sicher daran, dass die Ausschreibungen damals vor allem bei twitter beworben wurden - daher wusste ja auch ich selber davon.

 

Die Autor:innen haben fast alle bereits veröffentlicht, ob Romane oder Kurzgeschichten in anderen Anthologien und dies wird in den Vitae auch ausführlich dargelegt.

Rezeption

Bei einem großen Online-Buchhändler gibt es bereits eine Rezension, die sehr positiv ist.

Über die Herausgeberin

Die Herausgeberin Magret Kindermann ist sehr aktiv bei twitter und auch bei Insta. Sie ist sowohl Self-Publisherin als auch Verlagsautorin. Bisher habe ich von ihr "Killing Zombies and kissing you" gelesen (und eigentlich auch noch einiges mehr von ihr auf der Merkliste). 

 

Das Lektorat, Korrektorat und auch der Buchsatz in dieser Anthologie sind von außerordentlich hohem Niveau, was in der Hauptsache dem Einsatz von Magret (und auch von Cathy) zu verdanken ist. 

 

Die Anthologie "damit" ist ein Beispiel dafür, wie viel Mühe und Liebe zum Detail in einem im Selbstverlag herausgegebenen Werk stecken kann.

Harte Fakten

Titel damit 
mit Geschichten von Alex Rump · Lily Magdalen · Catherine Strefford · Michael Leuchtenberger · Charley Queens · Nika Sachs · Henriette Werner · Herbert Glaser · Katharina Stein · Vanessa Glau · Ela Bellcut 
herausgegeben von Magret Kindermann
Erscheinungsjahr 2021 
Seitenzahl 89 
Anzahl Geschichten 11 
Original Twitter Tweet https://twitter.com/Rezensionsnerd1/status/1455773538586177537 

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