· 

Die Erinnerung an unbekannte Städte von Simone Weinmann

Inhalt

 "Schlafes Bruder" meets Walking Dead, nur ohne Zombies - und ohne Musik. 

 

Von der Stimmung her bin ich sofort in einer Welt wie im vorletzten Jahrhundert. Es gibt keine Autos. Nicht einmal Kutschen - denn Pferde sind zumindest in diesem Teil von Europa ausgestorben. Alle sind sehr religiös, nun ja, zumindest ein großer Teil der Dorfbevölkerung. Es gibt nur eine kleine Schule und zwei Lehrer:innen, eine für die jüngeren Kinder und Ludwig, einen der Hauptfiguren, für die älteren Kinder. 

 

Doch der Roman spielt nicht im vorletzten Jahrhundert. Er spielt in der nahen Zukunft, circa 2045. Die Welt, wie wir sie kennen, ist vorbei. Die Apokalypse fand 2030 statt und die Überlebenden leben wieder wie vor zweihundert Jahren. (Mehr zum Weltenbau unten, falls das sonst jemanden spoilert, weil es auch Spaß macht, die Stellen selber zu entdecken und die Autorin einiges erst nach und nach entblättert.)

 

Ludwig, circa Anfang/Mitte vierzig, ist der Lehrer für die älteren Kinder. Einer seiner Schüler, Nathanael, möchte Arzt werden. Er leiht ihm ein Anatomie-Buch. Das schmeckt der sehr religiösen Mutter nicht, die den Sohn daraufhin aus der Schule nimmt und ihn beim ortsansässigen Prediger in die Lehre gibt. Nathanael glaubt aber nicht an Gott und mag den Prediger nicht. Er hat gehört, dass es in Mailand wieder eine Universität gibt und plant seine Flucht. Gemeinsam mit Vanessa, die es mit ihrer Mutter nicht mehr aushält.

 

Kaum sind die beiden verschwunden, taucht Nathanaels Mutter bei Ludwig auf, mit der Bitte, die beiden zurückzuholen. Dieser kann immerhin herausfinden, dass ihr Ziel Italien lautet und weiß daher, sie müssen durch den Tunnel im Süden. Er geht los, um sie einzusammeln, wohl wissend, dass sie vielleicht nicht auf ihn hören werden. Auch er selber ist nicht ganz glücklich im Dorf.

 

Die Handlung beginnt so richtig erst ab Seite 90, als Nathanael und Vanessa sich auf die Reise machen. Auch da bleibt die Erzählweise eher langsam. Der Schluss ist in Ordnung, aber man könnte schon sagen, dass es kein Schluss ist, wie man ihn normalerweise gewohnt ist - ein Konflikt entsteht, spitzt sich zu und löst sich auf. Hier ist es anders, was den Roman untypisch macht und sicher auch nicht für jeden Lesegeschmack geeignet.

 

Es gibt einiges an Licht und Schatten. Zuerst zum Licht:

 

Es ist gut geschrieben. Es liest sich gut. Es gibt tolle, subtile Stellen. Der Horror dieser Welt steht oft zwischen den Zeilen. Ich habe viel darüber nachgedacht, wie es für mich wäre, in dieser Welt leben zu müssen. Das Ereignis wird so gezeigt, dass es wirklich von einer Minute auf die andere geschieht und auch plausibel gemacht. Der Weltenbau ist beeindruckend und genau richtig vermittelt. Die Dialoge fühlen sich echt an. Überhaupt alles fühlt sich beängstigend echt an. Das ist eine große Schreibleistung.

 

Dann zum Schatten:

Die Figuren müssten stärker motiviert sein. Ich fiebere zwar leicht mit ihnen mit, aber - bis auf Nathanael - haben sie eher schwammige Ziele. Es hilft mir beim Lesen aber, wenn die Figuren klare, fast zwingende Ziele haben. Ludwig ist eher pauschal unzufrieden und fühlt sich nicht ganz wohl. Vanessa will irgendwie weg von ihrer Mutter, hat aber nicht so die rechte Vorstellung, was sie stattdessen will.

Nathanael will Arzt werden und hat dafür auch eine Motivation: Den Tod seiner Schwester Rahel. Das ist in Ordnung und besser als bei den beiden anderen, hätte aber auch zwingender beschrieben werden können. Dass er daher vom Dorf weg muss, ist ausreichend klar, da es dort keine Möglichkeit gibt. In Italien soll es ja eine Universität geben. 

 

Außerdem wird sehr langsam erzählt. Die Handlung geht nur schleppend voran. Vieles, das sehr interessant gewesen wäre, wird nur angedeutet. Beispielsweise, wie Ludwig die ersten Wochen nach der Katastrophe erlebt hat. Das wurde wohl bewusst ausgespart. Eine Leerstelle für mich als Leserin. Ich kann die auch durchaus füllen, da ich genügend Post-Apokalypsen gelesen habe und Phantasie habe. Aber die Leerstelle ist schon ziemlich groß. 

Viele tolle Textstellen

In dem Roman wimmelt es von Stellen, die ich extrem gern gelesen habe. Tolle Gedanken. Super Halbsätze zur Charakterisierung. Szenen, die zum Nachdenken anregen. Das alles spricht dafür, die Autorin auch in Zukunft zu beobachten. 

 

So hat Ludwig ja die alte Welt (quasi unsere Welt) bis 2030 noch miterlebt und da war er bereits am Ende seines Studiums, also vermutlich Mitte zwanzig. An einer Stelle heißt es:

"Als Student hatte er von New York geträumt, von einem Loft mit unverputzten Wänden und Sirenengeheul in der Nacht, wo man die Nachbarn nicht kannte und jeder tat. was er wollte."

Es muss nicht dazu geschrieben werden, wie weit weg seine Lebensrealität davon ist.

 

Einige Figuren bleiben wirklich extrem unsympathisch und recht wenig graustufig, so Nathanaels Eltern. Die Mutter gibt an einer Stelle sogar an, sie hätten den damals zweijährigen Nathanael fast ausgesetzt, um überleben zu können. Das finde ich erstens krass und zweitens, dass sie es ihm erzählen. 

 

Wie bei den meisten postapokalyptischen Dystopien stapeln sich die Autos mit Leichen drin auf den Straßen und vor allem, den Autobahnen. Die sind jetzt alle schon eher so 13-15 Jahre alt und daher nur noch Skelette. Immerhin. Meiner Ansicht nach vermittelt diese Passage die düstere Atmosphäre sehr gekonnt:

"Wir fahren, kommt ins Auto, schnell. Dann waren die Kolonnen immer langsamer geworden, bis sie schließlich erstarrten, und die Menschen, die sich in der Kälte nicht trauten, ihre Autos zu verlassen, waren darin erfroren, folgsam aufgereiht in ihren Metallsärgen. Vielleicht hatten sie vorher noch miteinander gestritten - wären wir doch daheim geblieben, warum hast du mir nicht zugehört -, und irgendwann waren sie alle still geworden."

 

Es gibt eine Szene, in der Ludwig in einer Art Krankenstation wartet und während der dort ist, wird ihm klar, dass er "vorher" schon mal in diesem Raum gewesen war, damals, als es noch eine Buchhandlung war. Er erinnert sich an damals und dadurch wird ihm der "Abgrund" klar, der zwischen jetzt und damals liegt. Das ist extrem gut beschrieben.

 

Obwohl es Nathanael ist, der als einziger ein klares Ziel hat, empfinde ich Ludwig als am besten und tiefsten charakterisiert. An einer Stelle hat er sogar sehr böse Gedanken, die aber nicht dazu führen, dass er sich mir entfremdet. Er wird überfallen und ausgeraubt von drei Männern und stellt sich danach vor, wie er sich rächt, sehr intensiv und eigentlich total überzogen. Dennoch ist das an der Stelle glaubwürdig.

Ludwig war in der alten Welt Programmierer. Er ist an vielen Stellen betrübt darüber, dass dieser Teil der Welt endgültig tot ist.

 

Nathanael wird vor allem in seiner Liebe zu seiner verstorbenen Schwester Rahel plastisch gemacht. Da kommen die meisten Informationen auch erst im letzten Teil des Buchs. Es gibt da diesen Satz: "Es gab eine Zeit, da konnte er es kaum erwarten, aus der Schule nach Hause zu kommen und für Rahel da zu sein, aber das verriet er nie jemandem."

Solche Gedanken zeigen mir, dass ich von der Autorin noch großartige Prosa erwarten kann.

 

Man merkt, dass Vanessa und Nathanael nie in unserer Welt gelebt haben. Während wir oft an Metall denken, wenn wir Blut riechen, denken sie an Blut, wenn sie Metall riechen. Blut ist für sie alltäglicher als Metall.

A Story, B Story und Prämisse

Offenbar schreibe ich Rezensionen, um mich selber zu geißeln. Wie finde ich denn bei so einem Roman die A Story, B Story und eine Prämisse?

 

Na, ich wage es, auch auf die Gefahr hin, dass ich mich irre:

 

Die A-Story (vordergründige Story) lautet, wie die Menschen überleben und ihr Leben erleben in dieser wieder reduzierten Welt. Die Möglichkeiten sind anders, erinnern eher an die Welt um 1900 herum, sogar an gewissen Punkten weniger, weil niemand kurz davor ist, Autos im Alltag zu etablieren und auch Pferde ausgestorben sind. Es gibt drei Hauptfiguren, Ludwig, Vanessa und Nathanael - wobei von denen nur Nathanael ein klar formuliertes Ziel hat. Vanessa und Ludwig sind eher nur diffus auf der Suche nach einem besseren Leben. Das ist es vermutlich auch, was die Figuren so schwammig und unzugänglich für mich als Leserin macht. Hätten sie klarere Ziele, könnte ich ihnen besser folgen.

 

Das macht die Frage nach der B-Story (hintergründigen Story) noch etwas schwieriger für mich. Hier wären ja innere Entwicklungen der Figuren die erste Adresse für Hinweise. Welche innere Entwicklung machen aber die Figuren durch?

Da ich vermutlich keine Chance habe etwas zu finden, das für alle gilt, betrachte ich sie einzeln:

Nathanael stellt fest, dass er seine Brüder vermisst und die Trauer für seine Schwester Rahel anders handhaben muss.

Vanessa erfährt, dass sie sich um jemanden kümmern möchte.

Ludwig steht ein wenig vor der Frage, was er mit seinem angebrochenen Leben hat und muss akzeptieren, dass man keine Programmierer mehr braucht. Das hat er bisher nur vermeintlich akzeptiert. 

 

Ok, das ist alles schwammig. Das kann an mir als Leserin liegen (wobei ich eher langsam und sehr aufmerksam gelesen habe, kein Hörbuch für nebenher oder ähnliches). Das kann aber auch daran liegen, dass es der Autorin nicht bewusst war oder sie es nicht ausdrücklich genug vermittelt hat. Das wäre dann ein Minuspunkt.

 

Ein vermutlich zu allgemeine Prämisse könnte sein: Mache das Beste aus deinen Möglichkeiten. Oder: Gib nicht auf, wage etwas für deine Träume.

Das ist etwas mehr auf Nathanael beschränkt als auf die anderen beiden, passt aber auch dort. 

Ein bisschen wird die Prämisse allerdings dadurch verwässert, dass sich die Zustände im Heimatdorf zum Schlechteren wenden.

Weltenbau - Vorsicht, Spoiler

Möglicherweise wollt ihr diese Dinge selbst entdecken. Wenn aber nicht, oder ihr euch anhand dieser Rezension einen Überblick verschaffen wollt (oder das Buch eh schon gelesen habt), dann fasse ich die beschriebene Welt gern zusammen. Die Versatzstücke habe ich detektivisch aus dem Text zusammengesammelt. Das hat mir viel Spaß gemacht.

 

Die Katastrophe:

Eines Tages wurde der Himmel schwarz. Dann fiel der Strom aus, das Handynetz war tot. Züge blieben stehen. Die Temperatur sank rasch, bis sie bei minus vierzig Grad stagnierte.

Direkt im Anschluss sind viele gestorben. Alle, die überlebt haben, haben sich irgendwie schuldig gemacht, jedenfalls wird das kolportiert. Nur Ludwigs Geschichte wird am Ende leicht angedeutet. Er hat sich mit anderen in einem Restaurant verschanzt. Leute hereingelassen haben sie nicht. Die sind draußen erfroren, verhungert, verdurstet. Auch innerhalb der Gruppe gab es Misstrauen, Diebstahl und Mord. Daher sprechen die Leute nicht gern über diese Zeit. Da liegt viel im Dunkeln, auch absichtlich. Die Auslassung ist eine der Stärken des Romans, auch wenn sie meine Neugier nicht befriedigt.

Dies muss im Mai 2030 gewesen sein, an einer Stelle finden sie einen alten Kalender, der auf Mai 2030 steht.

An einer Stelle recht zum Ende hin wird in einem Dialog vermutet, was diese Dunkelheit erzeugt hat. Leute haben das absichtlich gemacht, um die Klimaerwärmung zu stoppen. Im Geheimen, ohne Vorwarnung. Die USA oder China. Es war genauso geplant. Der CO2-Ausstoß wurde so auf fast null gebracht. Viele sind gestorben. Aber die Menschheit kann überleben. Nur so eine drastische Maßnahme konnte die Erwärmung noch stoppen. 

Das macht schon nachdenklich, von dem Punkt sind wir in unserer Realität nicht sehr weit entfernt. Da kann man schon Prepper-Phantasien entwickeln.

 

Die Welt um 2030:

War offenbar so ähnlich wie unsere, nur leicht extrapoliert, so gab es "Wearables", allerdings sind die manchmal durchgebrannt und die Leute, die sie trugen, mit ihnen. Da gab es ein Vorkommnis mit Computerviren, an das Ludwig an einer Stelle denkt, das zu solchen Dingen führte. Plus, die Plakate haben sich massiver verändert als wir es heute gewohnt sind und irgendwann auch die digitalen Bilder in Restaurants etc.. 

 

Die Zentrale:

Die hat den Hut auf in der Gegend, zu der das Dorf von Ludwig, Nathanael und Vanessa gehört. Die machen die Regeln, haben die Soldaten und bilden eine Art Regierung / Gesetzeshüter.

Später, als die drei Hauptfiguren in einem Dorf weiter südlich sind, wird deutlich, dass die Zentrale sehr streng ist und die Religiösität in der Gegend als Sekte von außen wahrgenommen wird.

So hat beispielsweise die Zentrale fast alle Bücher eingezogen. Alle Batterien und Elektrogeräte und Chemikalien. Das Äquivalent im Süden war viel liberaler, hat den Leuten mehr gelassen, die Steuern sind auch weniger hoch und es ist nicht alles so von Religion durchtränkt.

Wo die Zentrale keinen Einfluss hat (und auch keine andere, ähnliche Institution), gelten offiziell keine Regeln. Das ist ein gesetzloses Land, wo sich angeblich Menschen wegen einem Brot ermorden.

 

Nahrungsmittel und andere Güter:

Das Salz geht ihnen aus (sie haben auch nicht das Meer in der Nähe, was vielleicht helfen würde). Es gibt alles, was man so anbauen kann und manchmal finden sie noch unversehrte Dosen.

Papier wird auch knapp.

 

Lebenserwartung:

Antibiotika gibt es entweder nicht mehr oder sie sind auch arg alt und wirken nicht mehr immer. Wenn jemand mit 69 stirbt, heißt es nur "Sie war alt".

Ludwig weiß genau, jedes Mal, wenn er krank wird, ist sein Leben bedroht. Es gibt eben fast nichts, was man machen kann. Selbst Tee ist knapp.

 

Dörfer und Städte:

Offenbar schafft man es, kleine Dörfer zusammen zu halten, nicht aber Städte. Dazu langt es einfach nicht mehr, organisatorisch.

 

Tiere:

Pferde sind ausgestorben, doch es gibt wilde Hunde. Es wird nicht ausformuliert, doch ich vermute stark, dass durch den Temperaturabfall die Nahrung für die Pflanzenfresser zu knapp wurde. Die Hunde haben vermutlich die toten Pferde (und andere Pflanzenfresser) gegessen und so überlebt. Plus, sie könnten natürlich auch einfach Menschen fressen, auch wenn das nicht direkt angedeutet wird, wohl aber, dass sie einem gefährlich werden können.

 

Datumsrechnung:

Ist ungenau. Der Kalender der Orte im Süden geht sozusagen zwei Tage nach. Es gibt keinen zentralen Ort, der das steuert. Der Mond ist wegen der Verdunkelung des Himmels noch immer nicht zu sehen. Das hätte sonst Hinweise geben können. Ludwig besitzt einen Mondkalender, der aber irgendwann abläuft.

Rezeption

Die Bewertungen bei einem großen Online-Buchhändler sind durchweg positiv.

 

Powerschnute und ich haben um die Wette gelesen, sie hat mich leicht überholt und hat auch ihre Rezension schon fertig. Sie ist damit nicht so recht warm geworden. 

 

Bei dieser Buchhandlung gibt es eine Kurzbesprechung. Oh, und Christian Endres hat es auch schon gelesen, Mannomann, der Mann liest aber auch alles! 

 

Hier kann man die Autorin übrigens kurz im Video (Buchtrailer) sehen. Sie hat fünf Jahre an dem Roman gearbeitet, da sie eben in der Zeit eine Ausbildung gemacht hat und Vollzeit gearbeitet hat. 

 

Im Buchreport gibt es ein Interview mit der Autorin. Ich finde es interessant, dass sie in Astrophysik promoviert hat. Vielleicht darf ich als nächstes eine Space Opera von ihr lesen? Das wäre ja mal was. Bei vielen ihrer Lieblingsautor:innen gehe ich voll mit (Ishiguro, McEwan, Hustvedt). 

Harte Fakten

Titel Die Erinnerung an unbekannte Städte 
geschrieben von Simone Weinmann 
Verlag Kunstmann, A. 
Erscheinungsjahr 2021 
Seitenzahl 272 
Original Twitter Tweet https://twitter.com/Rezensionsnerd1/status/1460586316723281925 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0