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Alraune Ausgabe 2: Das Ende der Welt

Inhalt

Die Ausgabe 1 habe ich verpasst, die Ausgabe 2 wurde mir sehr ans Herz gelegt, weshalb ich Ernst Wurdack um ein Rezensionsexemplar gebeten habe, das ich freundlicherweise auch erhalten habe, danke dafür! 

 

Die Geschichten sind qualitativ alle mindestens angenehm bis sehr gut. Was mich ebenfalls sehr fesselt, ist der innere und äußere Zusammenhang der Geschichten, was Welt, Setting und sogar einige tiefere Ebenen betrifft. Der Zusammenhalt auf der subtileren Ebene kann Zufall gewesen sein (und ergibt sich aus dem Turm, der vorgegeben war), dass alles in derselben Welt spielen sollte, war eine Voraussetzung.

Mal hier mal da wirkt daher die Beschreibung der Welt etwas redundant, allerdings führt das auch dazu, dass jede Story auch einzeln verständlich ist  - wobei ich mindestens bei Scherm empfehlen würde, die Geschichten alle zu lesen und betonen möchte, dass das Lesevergnügen sich aufgrund des Zusammenhalts im Laufe der Ausgabe stark erhöht. 

 

Die Storys spielen alle im gleichen Universum. Eve und Lenina werden in Dinses Geschichte erwähnt und man erfährt noch einige fiese Details über Lang, Leninas Vater. Der Turm auf dem Titelbild kommt ebenfalls in mehreren Geschichten vor. 

 

Beim Lesen der Geschichten von Jorges ist mir aufgefallen, dass die Storys auf einer weiteren Ebene eine Gemeinsamkeit haben (wenn es auch nicht in allen Geschichten gleichermaßen bedeutsam ist). die Figuren sind auf der Suche nach einem Zuhause oder halten wider besseren Wissens an ihrem bisherigen Zuhause fest, auch wenn es sehr schwierig wird, dort zu bleiben. Das weitläufige Thema des Reise (oft zu dem Zweck, ein neues Zuhause zu finden, wenn es sich auch bei Scherms Schamanen etwas anders verhält) erkenne ich auch bei mehreren Geschichten. Im Detail dazu siehe unten bei der Rezension zu Jorges. Träume und Visionen kommen ebenfalls in mehreren Geschichten vor, was zwar nicht vorgegeben war, sich aber bei den Themen oft ergibt.

 

Das macht eine herkömmliche Rezension natürlich nicht ganz einfach - der Zusammenhang zwischen den Geschichten (und auch die durchweg hohe Qualität) bringt mich dazu, hier dann doch jede Geschichte zu besprechen, was aufgrund der niedrigen Zahl ja auch machbar ist.

 

Einsichten und Leninas Reise von Marianne Labisch

Diese beiden Geschichten gehören zusammen. In Einsichten lernt die Protagonistin Lenina die obdachlose Eve kennen, die sie rettet, nachdem Lenina von ihren Eltern in einem Zoo vergessen wurde. Leninas Reise ist zwar auch alleinstehend verständlich, aber es macht mehr Spaß, wenn man die Vorgeschichte kennt. Einsichten habe ich bereits nach der Erstveröffentlichung in Pandemie rezensiert, daher konzentriere ich mich hier auf Leninas Reise

Der Weltenbau hat mir erneut sehr gut gefallen, vor allem die Sache mit dem Planeten, auf den wir unseren Müll schleudern. Das müsste man mal zu Ende denken. Schrumpft dann die Erde auf Dauer?

Auch hier sind die Dialoge wieder sehr überzeugend, die Figurenrede klingt eben wie echter Dialog und unterscheidet sich gründlich vom Fließtext. 

Die Botschaft ist anfänglich sehr klar und lässt mir als Leserin nicht so viel Interpretationsspielraum wie ich es gern hätte. Obdachlose sind quasi Müll und sollten daher entsorgt werden. Die Jugendlichen - Lenina und ihr Kumpel Henry - werden sogar in der Bibliothek abgehört und müssen sich draußen unterhalten, wenn sie kritische Gedanken austauschen wollen.

Jugendliche haben ja auch in unserer Welt oft die Eigenschaft, die Welt mit frischen Augen zu sehen und Dinge, die "schon immer so gemacht wurden" in Frage zu stellen. Das ist hier sehr schön und glaubhaft herausgearbeitet. 

Leninas Konflikt, ob sie ihrem Vater Glauben schenken sollte oder eher nicht, wird nur angerissen, was aber in Ordnung ist, da ich beim Lesen die Leerstelle mit eigenen Überlegungen füllen darf. Außerdem ist das nur der Einstieg in eine längere Geschichte, die sich noch zu einem überraschenden Road Movie entwickelt. 

Im ersten Drittel habe ich beim Lesen einige Parallelen zur Nazizeit gesehen, am Ende fühlte ich mich aber doch eher an den Kampf gegen den Klimawandel und soziale Ungerechtigkeit erinnert. Eine actionreiche Story, die Scherm am Ende dieser Ausgabe erneut aufgreifen darf.

Beim Lesen der Geschichten weiter hinten im Buch stelle ich nachträglich fest, dass die Themen der B-Story hier (Reise bzw. Fluch und die Suche nach einem neuen Zuhause) hier auch schon sehr deutlich anklingen.

 

Die Schamanen-Storys von Gerd Scherm

Die sollte ich gemeinsam besprechen, da sie zusammenhängen.

Hochinteressanter Weltenbau, auch schön SF eingebettet - aber eine Geschichte erzählt die erste der Geschichten "Die Botschaft des Schamanen" noch nicht. Es erinnert ein wenig an einige kleine Experimente von Ken Liu, in denen er explizit keine Geschichte erzählt, sondern lediglich den Ausschnitt aus einer Welt schildert. Ich fand es sprachlich recht angenehm und als ich erstmal akzeptiert hatte, dass hier keine szenische Action (oder auch irgendeine narrative Story) kommen wird, habe ich es genossen.

Ich habe mich gefreut, als ich festgestellt habe, dass der Autor noch mehrfach in dieser Ausgabe in diese Welt zurückkehrt.

Die Fantasy- Komponente verstärkt sich ab der zweiten Story schon deutlich, was z. B. Kontakte zu Geistern und andere Visionen betrifft. Dafür wird es merklich szenischer und dialoglastiger. Nun nützen auch die Informationen aus der Welt viel, die in der ersten Schamanen-Kurzgeschichte vermittelt wurden. Der Protagonist bereist die Welt, die sich von heute aus in erwartbare Richtungen (Stichwort steigender Meeresspiegel) verändert hat.

Die Geschichte des Schamanen zieht sich durch die gesamte Ausgabe, der kommt auch in einigen Facetten in den anderen Storys direkt oder auch etwas indirekter vor und die letzte Schamanen-Episode zurrt dann endgültig auch jene Geschichten fest, die vorher vielleicht noch etwas offener am Schluss wirkten. Hier wird auch das Thema "Das Ende der Welt" deutlich klarer (obwohl es ja schon vorher mehr als nur einen Hauch Postapokalypse hatte).

 

Gehenna von Sascha Dinse

Ich lese ja nicht zum ersten Mal etwas von diesem Autor und allmählich fällt mir doch auf, wie visuell er schreibt. Wie ein kleines Kino durch die Lupe, die über die Details huscht. Dabei nutzt er aktive, perfekt ausgewählte Verben wie "prasseln" oder auch "laben". 

Auch Bilder wie "bleckt sie Zähne aus blank poliertem Chrom" machen das Lesen mehr als nur angenehm. Schöner Stil!

Gleich am Ende der ersten Halbseite wird klar: Das erzählende Ich ist kein Sympath. Das ist zwar sehr klar, aber keineswegs plakativ und wird aufgrund der Sicht auf die Obdachlosen charakterisiert. Show don't Tell vom Feinsten.

Eine sachte Andeutung wird vielleicht ein wenig zu rasch aufgelöst - ja, das erzählende Ich scannt die Obdachlosen nach brauchbaren Organen. 

Auf der zweiten Halbseite freue ich mich über klaren SF-Weltenbau. Wenn es auch nicht gerade eine Utopie ist. 

Tröstlich ist, dass offenbar auch andere die Hauptfigur durchaus unsympathisch finden.  Zwar büßt der Plot durch den Dialog mit der Ärztin einiges an Subtilität ein (sie verbirgt ihre Abscheu keineswegs), doch macht das Lesen dann auf eine neue Art und Weise Spaß. Allmählich interessiert mich, was der Erzähler hinter sich hat, dass er so viel unverhohlenen Hass genießen darf. Das wird dann recht bald klar.

Der (hassenswerte) Protagonist hat auch ein Problem, das er loszuwerden versucht, neben seinen Alltagsgeschäften. Er hat Träume, die ihn quälen und die er loszuwerden versucht. Hier entdecke ich weitere Parallelen zu Mariannes Story, die mir gut gefallen (Stichwort Sibirien). 

Außerdem gibt es an passender Stelle eine Anspielung auf Frankensteins Monster. Man merkt an einigen Szenen, dass der Autor sonst auch ganz gern mal Horror schreibt. 

Was man meiner Meinung nach in der deutschsprachigen Phantastik auch selten findet: Die Kämpfe sind hier gut beschrieben. Zwar noch nicht auf dem Niveau wie bei The Expanse oder Game of Thrones, aber alles andere als zu generisch. Meiner Auffassung nach liegt das nicht nur an der sehr aktiven, lebendigen und visuellen Art zu beschreiben, sondern auch daran, dass die Innensicht nicht vernachlässigt wird. Wie fühlt sich das für den Erzähler an? Wann wird ihm schlecht, wann geht ihm die Kraft aus? Das wird sonst oft vernachlässigt, was solchen Szenen das Leben nimmt. 

 

Erneut hebt sich die Prosa dieses Autors in der deutschsprachigen Phantastik sogar in dieser qualitativ hochwertigen Sammlung toller Texte erneut positiv ab.

Die Geschichte können wir uns übrigens auch bei YouTube anhören!

 

Voss, Vincent: Die große Flut

Jetzt, da ich begriffen habe, dass und wie die Kurzgeschichten ineinander verzahnt sind, finde ich mich gleich besser zurecht. Dies Geschichte spielt in Norddeutschland, was mir nahe kommt (ich wohne in SH nicht weit von der Ostsee entfernt). Nur hier ist Norddeutschland eine gefährliche Zone, die regemäßig von Fluten heimgesucht wird und nicht mehr versicherbar ist - auch Infrastrukturen wie Polizei und Krankenhaus gibt es dort nicht mehr. Diese Informationen werden mir als Leserin kurz nach dem Anfang sicherlich etwas zu direkt und in einem Stück vermittelt, danach folgt allerdings nur noch szenische Action.

Eine Familie mit zwei Kindern und Großmutter steht hier im Vordergrund. Zu dem postapokalyptischen Setting gesellt sich bald etwas Fantasy und Magie, ähnlich wie bei einigen anderen Storys in dieser Ausgabe, auch den Schamanen vom Scherm und dem dunklen Turm (nein, nicht den von King!) begegne ich erneut.

Das Ende ist hier etwas erfreulicher als in der vorherigen Story, dafür sind aber auch die Hauptfiguren Sympathieträger. 

 

Jorges, Julia A.: Die Suche

Hier ergibt sich noch eine weitere Parallele und zwar etwas subtiler, in der B-Story, zu der Geschichte von Voss. Die Hauptfiguren bei Voss verlassen zunächst ihr Zuhause nicht, obwohl es dort extrem ungemütlich und ungeschützt wird, eben weil es ihr Zuhause ist. 

Hier sind die Figuren auf der Suche nach einem Zuhause, da sie aber arm sind und Überbevölkerung herrscht, ist das Ziel nicht so einfach zu erlangen. 

Nach näherem Nachdenken sehe ich dieses Thema auch bei Labisch, vor allem bei der zweiten Geschichte. Lenina verlässt ihr Zuhause aus gutem Grund und macht sich gemeinsam mit einer Wahlfamilie auf den Weg zu einem neuen Zuhause.

Der Schamane hingegen scheint in der gesamten Welt zu Hause zu sein, manchmal sogar an mehreren Orten gleichzeitig, er ist kontinuierlich auf Reisen und scheint kein Zuhause an einem Ort zu benötigen.

Dieses gemeinsame Thema schweißt die Geschichten auf einer weiteren Ebene zusammen, was  mir sehr gut gefällt!

Der Bezug zur Flüchtlingsproblematik ist hier noch ein wenig stärker als bei den anderen Geschichten zum Thema Reise (oder Flucht). 

Auch die Themen Visionen und Träume werden hier wieder aufgegriffen.

Der Schluss wirkt etwas offen, was aber gut passt, da direkt danach die letzte Schamanen-Teilstory von Scherm folgt, die alle Fäden miteinander verwebt.

Alle enthaltenen Geschichten

Labisch, Marianne: Einsichten

Scherm, Gerd: Die Botschaft des Schamanen

Labisch, Marianne: Leninas Reise

Scherm, Gerd: Die Reise des Schamanen

Dinse, Sascha: Gehenna

Voss, Vincent: Die große Flut

Scherm, Gerd: Das Treffen des Schamanen

Jorges, Julia A.: Die Suche

Scherm, Gerd: Die sieben Schalen des Zorns (Armageddon) 

Wie bin ich zu dem Buch gekommen?

Ich hatte mir vorgenommen, in 2022 alle SF-Kurzgeschichten zumindest anzulesen. Hier fiel mir das sehr leicht, weshalb ich auch alle rezensieren möchte.

Harte Fakten

Titel Alraune Ausgabe 2: Das Ende der Welt 
Verlag Verlag Ernst Wurdack 
Rezensionsexemplar ja, danke dafür 
Erscheinungsjahr 2022 
Seitenzahl 80 
Anzahl Geschichten
Original Twitter Tweet https://twitter.com/Rezensionsnerd1/status/1519176525626712064 
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