Autorx: Titel
Michael Iwoleit übertrifft sich meines Erachtens mit dieser Novelle selbst, und das, obwohl er kongeniale Novellen wie Zur Feier meines Todes und Ich fürchte kein Unglück verfasst hat, die mich nachhaltig beeindruckt haben.
Im Rahmen meiner Endjahresaktion habe ich seine Novelle erneut gelesen (Lesezeit rund zwei Stunden), da meine Erstlektüre eine Weile her ist (Februar 2022) und sie hat mich wieder abgeholt. Ich bin mir sicher, dass sie am Ende in meinem persönlichen Ranking weit oben landen wird (Spoiler: Platz 2).
Es bleibt zu hoffen, dass Michael Iwoleit steinalt wird und noch einige Novellen dieser Qualität abliefert, offenbar ist das seine größte Stärke.
Ich habe übrigens erst nach dem Fertigstellen dieser Rezension meine alte gelesen - ist vieles ist ähnlich, vieles anders. Man merkt, viel hängt auch an der lesenden Person. Diesmal hat mir die Novelle im Fazit noch besser gefallen als beim ersten Lesen.
Grundsätzliches zu dieser Novelle
Irgendwann im Jahre 2006 las ich mal bei einer Lesung einen Text vor, der verdammt viel aus meinem eigenen Leben klaute, obwohl ich keinesfalls eins zu eins über mich selbst schrieb. Mein damaliger Freund (ein äußerst netter Mensch, der aber Angst vor meiner Prosa hatte), hörte zu und behauptete danach, ich hätte ja nur geschrieben, was echt sei. "Das ist ja keine Kunst."
Seither habe ich vielen Menschen gelauscht (oder auch selbst gelesen), die auf Kritik erwiderten: "Aber so ist es wirklich gewesen!"
Nur weil etwas sich tatsächlich so zugetragen hat, ist es noch lange nicht glaubwürdig, eine gute Geschichte oder gar gut erzählt. Nur, weil man aus seinem eigenen Leben klauen kann, wird es noch lange nicht einfach. Im Gegenteil, dabei kann eine Menge schiefgehen.
Diese Novelle hätte nur Iwoleit schreiben können. Sie ist kein Abklatsch von Tiptree, Clarke oder Frank Herbert. Dabei sind selbstverständlich der Ich-Erzähler mit dem Autor nicht identisch. Ich habe keinen Plan, wie viel und was der Autor aus seinem Leben übernommen hat, aber einiges ist es definitiv. Ich würde vermuten: Gerade genug, damit es sich verdammt echt anfühlt, aber ausreichend wenig, so dass ich danach trotzdem nichts über den Menschen hinter der Novelle weiß - aber eben sehr sehr viel über den Ich-Erzähler.
Was ist das Thema der Novelle?
Ein Mann (offenbar 1989 geboren, wenn ich das richtig interpretiert habe) schreibt als Achtzigjähriger über die Begegnung mit einer Frau (oder war es ein virtuelles Wesen? Ein Geschöpf seiner Phantasie?), die fortan sein Denken so stark beherrscht, dass er sein Leben auf sie auslegt, ein Haus für sie beide baut und ihr sogar ein Zimmer (inklusive Kleidung) einrichtet. Das ist schräg und das weiß er auch und es steht explizit im Text. Er ist also keinesfalls verrückt geworden; er ist sich bewusst, dass diese Frau nicht real ist, dennoch ist sie für ihn real, realer als alles andere.
Die Novelle erzählt uns (oder vielmehr: dieser imaginären Frau, die auch direkt in der zweiten Person Singular angesprochen wird) sein Leben im Rückblick. Er war als Programmierer maßgeblich mitverantwortlich für eine virtuelle Realität, die zunächst als Alternative, dann als eine Art Layer über unserer Wirklichkeit für die Welt zugänglich wurde.
Er hat auch eine Tochter, Cara, einen Poolmensch (die sich massiv von "natürlichen Menschen" unterscheidet), deren Vater er zu 12% ist (alles unter 5% würde ihm nicht mal mitgeteilt). Die beiden haben eine Art Vater-Tochter-Verhältnis, das hochinteressant ist, denn sie haben nie zusammengewohnt.
Der Leidensdruck des Erzählers ist wahnsinnig hoch, er erscheint hochgradig einsam, wählt über weite Teile seines Lebens die Isolation, genießt Nähe zu anderen Menschen nicht und ist stets auf der Suche nach Perfektion. Findet er sie, erfüllt sie ihn ebenfalls nicht.
Die Betonung auf die Schönheit, vor allem bei weiblichen Geschöpfen, würde ich normalerweise stark bemängeln, hier aber nicht. Erstens funktioniert die Novelle gar nicht, wenn der Erzähler nicht ständig die Schönheit der Frauen um ihn sehen, beurteilen und thematisieren würde. Zweitens ist es für den Weltenbau wichtig (dazu später mehr), da durch die virtuelle Realität quasi jeder Mensch schön sein kann oder jedenfalls schön auf den Rest der Welt erscheinen kann. Drittens ist er mit sich und seinem Körper massiv unzufrieden, an einer Stelle sogar mit seiner Stimme. Viertens glaube ich, dass die Schönheit gar nicht für sich selbst steht, sondern eher für etwas anderes, etwas abstraktes, unerreichbares. Es ist nicht das perfekte Äußere, wonach er sich sehnt, das ist nur eine Ausflucht.
Die Welt ist nicht makellos, die Menschen sind es auch nicht und man möchte ihm zurufen: Du musst nicht perfekt sein, um glücklich zu sein, denn er erscheint im höchsten Maße unglücklich.
Stil, Sprache, Struktur
Don't try that at home! Jedenfalls bitte nicht als Anfänger! Iwoleit kann tatsächlich unszenisch auf spannende Art schreiben, Gedankengänge in recht langen Sätzen sehr tief und in fast barocken Stil auf den Grund gehen und schafft es dann in knapp hundert Seiten trotzdem, mich zu fesseln. Und das zweimal, denn ich habe die Novelle ja zweimal gelesen. Das können sonst nur tote Russen (und nun gut, vielleicht ein paar wenige andere, aber nicht unbedingt Personen aus der deutschsprachigen SF-Szene).
Der Stil ist in der Tat sehr einprägsam und überaus angenehm, obwohl er durchaus nicht so schreibt, wie es normalerweise meiner Komfortzone entspricht. Es klingt auch einfach richtig echt, als würde da tatsächlich dieser Ich-Erzähler Briefe schreiben.
Mit der Struktur einer Novelle kenne ich mich nicht wirklich aus, dafür habe ich zu wenige gelesen. Es beginnt jedenfalls mit der Schlüsselszene (der Begegnung der Frau), durchläuft nicht ganz chronologisch, aber doch irgendwie logisch das Leben des Erzählers und bringt auch am Ende vieles von dem, was auch tatsächlich kurz vor dem Verfassen der Briefe geschieht. Bis auf ein, zwei Szenen erschien mir das auch alles unverzichtbar. Obwohl es tiefgründig, wortreich und oft zu Ende gedacht wirkt, bleiben dennoch eine Menge wundervoller Leerstellen und ich folge ihm gern.
A-Story, B-Story, Prämisse
Hier könnte ich mich nun mehrere Seiten lang auslassen. Versuche ich es mal etwas kürzer:
A-Story (worum geht es vordergründig)
Ein achtzig Jahre alter Mann ist mal einer Frau begegnet, die all seine Sehnsüchte zu erfüllen schien. Es ist unklar, ob er diese Frau tatsächlich gesehen hat, sie einer VR entsprang oder seiner Phantasie - Tatsache ist, er hat nie mit ihr interagiert, sie nie wieder gefunden. Trotzdem hat er einen beachtlichen Teil seines Lebens auf sie ausgerichtet und sich nie auf eine reale Beziehung eingelassen.
Kurz bevor er den realen Teil der Welt endgültig verlässt und zu einem virtuellen Wesen wird, verfasst er einen langen Brief an sie: die vorliegende Novelle.
B-Story (worum geht es tatsächlich?)
Obwohl der Ich-Erzähler bereits achtzig ist, als er diese Briefe verfasst, ist er immer noch einsam, fühlt sich immer noch unzulänglich, ist noch immer unzufrieden. Die Erleuchtung bleibt aus.
Als Leserin glaube ich auch nicht daran, dass er die Erfüllung finden würde, würde er diese Frau wiederfinden, die er vor Jahrzehnten traf, würde sie sein Bedürfnis nach Vollständigkeiten nicht erfüllen können.
(Abgesehen mal davon, dass ich nicht glaube, dass ein anderer Mensch die Fähigkeit hat, uns zu vervollständigen oder glücklich zu machen, ich bin eine Anhängerin des Glaubens, dass man das nur selbst kann.)
Darüber hinaus (und die Novelle ist noch deutlich vielschichtiger als ich nach zweimal Lesen erläutern könnte) bietet die Virtuelle Realität Möglichkeiten, aber eben auch Gefahren. Eine Gefahr wird auch klar benannt: Wir geben uns keine Mühe mehr, was uns selbst betrifft, da wir uns so erscheinen lassen können, wie wir erscheinen wollen.
Stumpf gesagt wäre das: Ich sitze im Sessel und esse Schokolade, werde plump und träge und alle sehen trotzdem eine sportliche Person, die sich klasse bewegen kann.
Prämisse:
Du musst nicht perfekt sein, um glücklich zu sein.
Der Ich-Erzähler lernt das irgendwie nicht, so mein Eindruck, aber ich habe jetzt diese Chance.
Wo ist die Geschichte erschienen?
Die NOVA 31 habe ich bereits im Februar rezensiert. Eine zweite Story aus dieser Ausgabe ist in meinen Best-15 gelandet.
Lieblingszitate
Rein technisch haben es mir meine Reader nicht leicht gemacht, hier also liebevoll abgetippt meine Lieblingszitate:
In der Schlüsselszene, als er die imaginäre Frau zum ersten Mal sieht:
"Was mir sofort an dir auffiel, war deine Aura von Einfachheit, deine eigensinnige Ablehnung von Perfektion."
(Insofern klasse, weil zu einem Zeitpunkt in seinem Leben der Erzähler als Erschaffer von Avataren Perfektion anstrebt und sieht, wie es nicht das erhoffte Ergebnis bringt.)
"Mehr als jedem anderen hätte mir das Ausmaß an Beschönigung klar sein müssen, das jeden Aspekt unseres Leben in der Mitte des einundzwanzigsten Jahrhunderts überwuchert hatte."
(Erstens tolles Verb, zweitens schöne Extrapolation gewisser Entwicklungen, die seit den neunziger Jahren um sich greifen. Plus, es zeigt wieder, dass der Erzähler aktiver Teil dieser Entwicklung ist.)
Wer noch damit hadert, dass es in der Novelle so sehr um Schönheit geht, beachte die realistische Einschätzung des Erzählers bezüglich sich selbst:
"... um meinen etwas plumpen, untersetzten Körperbau ..."
" ... leicht körperbehindert" (der Erzähler hat eine Gehbehinderung, über die zu Schulzeiten gespottet wurde)
"Jede Form körperlicher Annäherung eines anderen Menschen machte mir sofort alle Unvollkommenheiten und Eigentümlichkeiten meiner eigenen physischen Existenz bewusst [...] dass ich mit meinem freien, schöpferischen Geist an einen organischen Körper gefesselt war, den ich nur in viel zu geringem Maße formen und beherrschen konnte."
Plus, auch Körperfunktionen stoßen ihn ab, vor allem beim Sex:
"... spürte ich alle Vorgänge in meinem Körper mit einer erschreckenden Intensität, die selbst meine Empfindungen beim Geschlechtsverkehr übertraf: die Regungen meines Verdauungstrakts, mein eigenes Gewicht auf der Matratze, die Atemgeräusch in meiner Brust, das sich verlangsamende Pochen meines Herzens."
Die Stelle mit dem sauren Atem habe ich in der letzten Rezension schon zitiert.
Auch bezüglich seines Charakters reflektiert er selbstkritisch:
"... ich muss gestehen, dass ich ihnen alles andere als ein angenehmer Gefährte gewesen bin." (Nach den Beschreibungen im Text stimme ich ausdrücklich zu.)
"... absonderlicher junger Mann ich in dieser Zeit gewesen sein muss ..."
Nur durch diese Sicht auf sich selbst verzeihe ich dem Erzähler seine teilweise unerträgliche Sicht auf Frauen, wie hier:
"... eingehüllt in die Parfümwolke einer dümmlich schnatternden Göre, die sich an meine Seite schmiegte ..."
Tröstlich ist, dass die "Göre" vermutlich viel glücklicher ist als er, denn hier wird ein hochgradig unglücklicher Mensch geschildert. Und zwar äußerst überzeugend und gelungen.
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