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Fortschritt und Fiasko: Die ersten 100 Jahre der deutschen SF- Hans Frey

Harte Fakten

Titel Fortschritt und Fiasko: Die ersten 100 Jahre der deutschen Science Fiction
Autor Hans Frey
Erscheinungsjahr 2018
Seitenzahl 380

Inhalt: Am Anfang anfangen

Ich hatte eine Rezension in der phantastisch! zu "Aufbruch in den Abgrund" (ebenfalls Hans Frey) gelesen, der Fortsetzung dieses Buchs. Da dachte ich: Vielleicht sollte ich erstmal den ersten Teil lesen. First things first.

 

Zuerst definiert Frey SF und Proto-SF (Johannes Kepler). SF gibt es erst seit dem frühen 19. Jahrhundert, alles davor ist Proto-SF. Das liegt daran, dass es erst da so richtig losging mit der wissenschaftlich-technischen Entwicklung.

 

Erstaunlicherweise beginnt die Geschichte der SF in Deutschland bereits acht Jahre vor Mary Shelley. Frey räumt zwar ein, dass Julius von Voß bei weitem nicht so einflussreich war wie Shelley, aber wenn Frankenstein die Mutter des SF ist, ist "Ini. Ein Roman aus dem ein und zwanzigsten Jahrhundert" von 1810 (Frankenstein: 1818) die Großmutter.  Die Zusammenfassung von Frey liest sich unterhaltsam. Er räumt ein, dass der Roman Schwächen hat, diese jedoch für die SF eher typisch sind. Beispiel: Klischeehafte, hölzerne Charaktere, da es nicht um Charakterentwicklung geht, sondern um Technik und Utopie/Dystopie in der Zukunft. Ein wenig vorhersehbar erscheint mir einiges in der Handlung ebenfalls. Anderes ist herrlich klassisch, wie die Reise des Helden (später bei Verne ging es ja quasi nur so zu, sagt Frey).

 

Weiter geht es mit E. T. A. Hoffmann, dem wir einiges zu verdanken haben, dass in die Richtung der SF geht. Wenn auch Hoffmann (wie so einige) dem technischen Fortschritt sehr skeptisch, wenn nicht sogar feindselig gegenübersteht und seine Literatur eher einen warnenden Charakter hat. Vor allem, was Robotor betrifft (damals noch Automaten, wobei es bei der recht neuen Spiegelreisenden interessanterweise wieder Automaten statt Roboter sind).

 

Sogar Goethe (Faust II) streift die SF, hier baut Protagonist Wagner einen Roboter, es wird ein "Mensch gemacht". Auch H. C. Andersen machte einen kurzen Ausflug in die SF mit "In Jahrtausenden" von 1853.

 

Kurd Laßwitz bekommt hier nicht nur viel Raum (der ihm auch zusteht), sondern wird auch sehr häufig als Einflussgeber auf nachkommende Autor*innen genannt. Auch andere Schriftsteller erhalten mehr Raum, da ihr Einfluss entsprechend war oder sogar noch ist wie z. B. Hans Dominik.

Vehikel rechter Propaganda: SF im deutschen Kaiserreich

Einen recht großen Teil des Buchs nimmt ein Rückblick auf die Zeit ein, in der SF als Propaganda benutzt wurde. Erst folgen sehr wenige Beispiele von linkspolitischen Autoren (keine Frauen dabei, also verzichte ich hier mal bewusst auf das *), da SPD-Anhänger*innen sich davor hüteten, genaue Utopien auszuformulieren.

 

Rechte, reaktionäre Autoren waren sich aber nicht zu fein für entweder düstere Dystopien, falls die SPD an die Macht käme oder farbenfrohe Utopien für rechtsorientierte Politik.

Obwohl der Autor ausdrücklich betont, nur einige Beispiele zu besprechen, habe ich doch nach ein paar hundert Seiten das Gefühl, ziemlich erschlagen zu werden.

Wenn es so viel rechte SF gab und diese teilweise Bestsellerstatus erlangten, ja, wundert mich dann der Kriegsausbruch von 1914 und die Machtergreifung der NSDAP 1933 dann überhaupt noch? Es war ja nicht nur so, dass es genügend Autoren gab, die nach diesen Überzeugungen schrieben, es gab ja auch noch zehntausende (hundertausende?), die bereit waren, es zu kaufen und zu lesen.

 

Nun gibt es mehrere Dinge zu erwähnen, das Wichtigste zuerst: Ich habe selber keines dieser Bücher gelesen und habe dies auch nicht vor. Es gibt einige wenige Bücher, denen Frey Unterhaltsamkeit, Originalität oder literarische Qualität einräumt, das Meiste allerdings scheint eher nur Mittel zum Zweck zu sein. Ich habe beim Lesen sogar das Gefühl, dahinter stecken nicht Schriftsteller mit Herz und Seele, sondern Meinungsmacher, Stimmungsmacher und bestenfalls Geldmacher.

Da ich aber keines dieser Bücher gelesen habe, bin ich auf Freys Meinung angewiesen bzw. habe hier und da auch mal ein wenig Google (vor allem wikipedia) um eine weitere Sichtweise bemüht und eine kritische Rezension gelesen, die das ein wenig anders sieht. Bei amazon gibt es eine Rezension, die das Buch auch eher kritisch betrachtet.

 

Beide anderen Rezensionen unterstellen dem Autor deutliche Nähe zur SPD - zu Recht, denn Frey war SPD-Landtagsabgeordneter. Die damalige Angst der Reaktionäre vor der SPD erscheint von heute aus total übertrieben. Es hagelt in den Dystopien der rechtsorientierten Autoren der damaligen Zeit folgende Klischees:

  • Alle Sitten verlottern
  • Privathandel ist abgeschafft
  • Essens- und Beschaffungsmarken statt Geld
  • Essen in Staatskantinen
  • 24 Jahre Schulpflicht
  • Kinder (Manchmal sogar schon Babies) werden den Eltern weggenommen und in Aufzuchtanstalten gesteckt

Dazu kommen mehrfach Aspekte, die man später durchaus in der NSDAP-Realität wiederfindet, am prominentesten das Meucheln von angeblich unwürdigem Leben, aber sogar das Anfertigen von Nutzdingen aus menschlicher Haut. Da muss man kein*e SPD-Anhänger*in sein, um das Grausen zu bekommen.

 

Sehr deutlich auch folgendes Zitat (S. 144)

"Die Dystopie hat die Aufgabe, durch übertreibende Extrapolation vor drohenden unmenschlichen Zuständen zu warnen und damit indirekt zur Verbesserung von Politik und Gesellschaft aufzurufen".

Somit haben etliche rechte Autoren dieser Zeit die Dystopie missbraucht, indem sie sie stattdessen als Schmähschrift gegen die SPD genutzt haben.

 

Ein wenig schwieriger wird es bei der Beurteilung des Rassismus. Den bemüht sich Frey im Lichte der damaligen Zeit zu betrachten. Er weiß durchaus, dass Verne linksliberal war, merkt dennoch an, dass selbst für diesen der Kolonialismus selbstverständlich war und beispielsweise in "Fünf Wochen im Ballon" Schwarze als "wilde Tiere" betrachtet wurden. Ganz zu schweigen von dem N-Wort. Dies ist unsere Vergangenheit (siehe "Exit racism"). Frey unterscheidet deutlich zwischen dem damals gängigen Rassismus und dem Rassismus der rechtsextremen Autoren, die in ihren Romen das Ausmerzen anderer Rassen thematisieren.

 

Die Kapitel zu derartiger Literatur sind anfänglich sehr unterhaltsam zu lesen, wenn auch oft schwierig aufgrund der teilweise krassen Plotideen der damaligen Autoren. Nach gefühlten Stunden mit Zusammenfassungen der Bücher dieser Zeit wird es mir dann doch irgendwann zuviel. Ich bin satt. Ich kann nicht mehr.

Reflektion: Für mich das Richtige, aber man kann es anders sehen

Mich stört es nicht, wenn bei einem Sachbuch - erst Recht zu diesem Thema - die Meinung des Autors durchscheint. Im Gegenteil, ich habe die sarkastischen Passagen genossen und fand es erfrischend. In der Amazon-Rezi las ich, der Leser hätte es besser gefunden, Frey hätte nur benannt "was war", ohne zu bewerten. Wie schwierig wäre denn das geworden hinsichtlich der vielen rechtsgerichteten und reaktionären Autoren aus der Zeit des Beginns des 20. Jahrhunderts!

 

Hätte ich hier neutrale Kapitel vorgefunden, ich hätte mich alleine gelassen gefühlt und Bauchweh bekommen von der ganzen Hetze und den fürchterlichen Plots einiger Dystopien. So aber hatte ich einen (meinetwegen sozialdemokratischen) Autor an der Hand und kam gut durch, habe die harten Fakten aber ja dennoch übermittelt bekommen. Er hält sich ja sogar noch zurück, man hätte das auch noch ganz anders bewerten und beschreiben können.

 

Es gibt viele Anregungen, einiges, das ich nun noch schnell nachträglich lesen werde, Wells' Zeitmaschine habe ich ja schon nachgeholt. Ich habe außerdem nebenbei noch einiges mehr der deutschen Geschichte begriffen und habe dies auf eine Art vermittelt bekommen, die mir besser im Gedächtnis bleibt als aus so manchem Geschichtsbuch.

 

Um eine andere Sichtweise auszuprobieren könnte ich natürlich mal Michael Salewskis "Zeitgeist und Zeitmaschine" lesen. Heinz J. Galle wurde mir ebenfalls empfohlen. Außerdem habe ich entdeckt, dass es zu einem ähnlichen Thema das Buch "Revanche!" von Franz Rottensteiner gibt, der müsste ja nun nach all den Jahrzehnten auch ein bemerkenswerter Kenner des Fachs SF und Phantastik sein.

 

Dennoch: Wie reich doch die Geschichte der SF ist, selbst wenn man den Fokus nur auf Deutschland legt. Ich habe das total unterschätzt. Ich hätte nicht gedacht, dass hier vor 1950 schon so viel los gewesen ist.

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