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Sind wir nicht Menschen - T. C. Boyle (Kurzgeschichtenband)

Harte Fakten

Titel Sind wir nicht Menschen
Autor T. C. Boyle
Erscheinungsjahr 2020 (aber Stories von 2014 und 2016)
Seitenzahl 400
Anzahl Kurzgeschichten 19
   

Inhalt: Mein erster Kontakt zu T. C. Boyle

Fazit für Eilige

Vom Namen her sagte er mich schon seit Jahren etwas, aber etwas gelesen hatte ich noch nie. So geht es mir ja mit vielen Schriftsteller*innen. Euch wahrscheinlich auch.

 

Dieser Kurzgeschichtenband enthält auch Science Fiction, wie eine Rezension der phantastisch! verspricht.

Außerdem heißt es, Boyle sei mit seinen Kurzgeschichten der Meister seines Fachs.

 

Ich finde hier vor:

  • Sechs richtig gute Geschichten.
  • Sechs solide Geschichten.
  • Sieben Geschichten, die mir nicht so gut gefallen haben.

Hätte man letztere weggelassen, würde ich wahrscheinlich herumlaufen und das Buch jede*m empfehlen. So sehe ich: Ambivalenz. Ich habe auch den Verdacht, dass ich einige Stories einfach nur nicht verstanden habe.

 

The way you look tonight

Hat mir überhaupt nicht gefallen. Klar, es ist ganz gut geschrieben, routiniert ist das Wort, das mir da einfällt. Wenn man aber zeitgleich Kurzgeschichten von Ken Liu liest, ist das nicht so ganz das Richtige.

Es gab weder eine gute Ausgangsidee (vielleicht für einen Slapstick-Lesebühnentext, der Life vorgelesen wird), noch besonders sympathische Personen und die Pointe hat mir irgendwie auch gefehlt.

 

Die Nacht des Satelliten

Das war sogar noch schlimmer. Klar, wieder routiniert geschrieben und stellenweise spannend, aber der Sinn der Geschichte ist mir entgangen. Nicht, dass ich glaube, eine Geschichte müsse grundsätzlich einen Sinn haben. Hier denke ich permanent beim Lesen "Ich weiß nicht was das soll".

 

Slate Mountain

Ja. Puh, jetzt bin ich froh. Ich dachte schon, es sei ein Fehlkauf gewesen. Diese Geschichte ist dann doch sehr spannend und die Figuren interessant, ich habe außerdem mit dem Protagonisten sehr mitgefühlt.

Alle sind über sechzig, der Protagonist arbeitet als Führer für Bergtouren. Er führt eine kleine Truppe von Senior*innen Richtung Gipfel, darunter auch seine eigene Ehefrau und seinen langjähriger Freund Mal, mit dem er aber lange Streit hatte.

Bevor er seine Frau heiratete, war sie mit Mal zusammengewesen, damals, als sie alle noch jung waren. Das ist ja schon mal eine Konstellation, die nicht uninteressant ist.

Seine Frau spricht auch angeregt mit Freund Mal. Aufgrund des Wetters muss die Truppe umkehren, bevor sie den Gipfel erreichen. Unten stellen sie fest, dass sie zwei Leute verloren haben: Seine Frau und Mal. Und es wird dunkel.

Interessant, spannend, guter Schluss. Das ist vielleicht nicht unbedingt eine Kurzgeschichte, an die ich mich in zehn Jahren noch erinnern werde (oh ja, solche gibt's), aber es ist eine, die mich einen Abend lang sehr gut unterhalten hat. Vielen Dank.

 

Sic Transit

Wir kommen langsam in Fahrt, oder? Hier stirbt zwei Blocks entfernt vom Nachbar ein alternder Rockstar alleine in seinem Bett. Dem Protagonist, nicht mehr ganz jung, aber auch noch nicht alt, geht das irgendwie nah. Durch eine Verkettung von Neugier dringt er in das Haus ein, stiehlt ein Tagebuch und liest es. Davon fasziniert, geht er dem Leben des Verstorbenen nach.

Sehr sympathische Figuren, netter Plot, schöne Gedanken und eine unnötige Sexszene, die nur von der Geschichte ablenkt. Ja, T. C. Boyle, wir kommen der Sache schon näher.

 

Hell lodernd

Diese Kurzgeschichte geht dann doch wieder in die Richtung der ersten beiden: routiniert, durchaus ihre Momente, aber am Ende frage ich mich dann: Was soll das?

 

Der Marlbane Manchester Musser Preis

Uff, das ist gruselig. Auf eine gute Weise. Ein Schriftsteller, der eigentlich nicht viel Lust auf andere Menschen hat, ist im Zug unterwegs zu einer Preisverleihung. Mit ihm im Waggon ein Junge, vermutlich lateinamerikanisch, ein Mann, osteuropäisch. Irgendwann bittet ihn der Mann, kurz auf seinen Jungen aufzupassen und geht zum Klo. Nach einer Weile geht dem Schriftsteller dann auf: Der kommt nicht zurück. Aber es kommt schlimmer, denn der Vater des Jungen war dieser Herr keineswegs...

Merke, wenn dich jemand mit seinem einzigen Anruf aus dem Gefängnis anruft, halte es besser nicht für einen Scherz.

Die Story hat mir wieder sehr gut gefallen, inklusive allem, auch dem Schluss.

 

Birnam Wood

Nun bin ich ja unterschiedliche Qualität gewohnt. Es plätschtert so vor sich hin, am Ende verhält der Protagonist sich auf eine Art und Weise, bei der ich nur den Kopf schütteln kann. So ein Verhalten kann ich nicht weiterempfehlen.

Das Gute ist: Nun scheinen endlich die Kurzgeschichten mit phantastischer Komponente zu beginnen.

 

Wiedererleben

Wow, das ist erstens die erste Story dieses Bands mit phantastischen Elementen und zweitens die erste, bei der ich eine zweite Ebene hinter der offensichtlichen vermute. Da frage ich mich dann doch: Haben vielleicht alle vorherigen auch eine zweite Ebene, die nur über meinen Kopf ging? 

Es gibt in nicht allzu ferner Zukunft eine Maschine, mit der man wiedererleben kann. Man sagt Datum und Uhrzeit und los geht es. Geruch nicht mit inbegriffen, aber Ton und Bild, offenbar auch der Tastsinn, weshalb es attraktiv ist, auch Sex wiederzuerleben. Sehr verführerisch, auch nachträglich sein Leben zu analysieren: Warum hat dies geklappt und warum ist die Ehe schief gelaufen? Der Protagonist wird süchtig. Kommt zu spät zur Arbeit. Verliert sich total in der Vergangenheit, während er seiner fünfzehnjährigen Tochter verbietet, zu viel Zeit mit der Maschine zu verbringen.

Neben der sehr gut umgesetzten Idee vermute ich hier als zweite Ebene, dass man generell (auch ohne Maschine) zu sehr in der Vergangenheit schwelgen kann, anstatt im Hier und Jetzt zu leben und zu erleben. Statt Zeit mit verflossenen Lieben zu verbringen, möchte ich dem Protagonisten zurufen: Verbring Zeit mit deiner Tochter!

Harte Story. Sehr gute Story.

 

Bombig

Na ja. Die Idee ist so schlecht nicht. Protagonistin bei Abschlusszeremonie mit all ihren Verwandten, doch sie hat den Abschluss gar nicht gemacht, ist am Roman "der scharlachrote Buchstabe" gescheitert und gab dann ihr ganzes Studium nach und nach auf. Ich habe auch schon ein Studium vergeigt (und eines erfolgreich beendet, aber das war viel später) und kann teilweise mitfühlen.

Damit bei der Abschlusszeremonie nicht herauskommt, dass sie gar nicht aufgerufen werden wird, setzt sie eine Bombendrohung ab. Klar, so eine bekloppte Idee können auch nur total verzweifelte, kurzsichtige Gestalten haben. Es ist aber spannend und nachvollziehbar gemacht. Nur der Schluss schrammt so haarscharf an einer guten Pointe vorbei, dass ich mich ärgere.

 

Sind wir nicht Menschen?

Die beste und spannendste Story bisher. Science Fiction. Man kann Babies "bestellen" wie bei Gattaca, nur detaillierter und mit deutlich mehr Extras. Gattaca ist ja auch mehr als zwanzig Jahre alt, hier hat Boyle ein paar Schritte weiter gedacht und in andere Richtungen. Dazu gibt es ganz neue Tiersorten, wie Mikroschweine (stelle ich mir süß vor) und Hundekatzen. Andere Probleme sind immer noch dieselben. Sie will Kinder, er nicht unbedingt. Die Nachbarin findet keinen Mann. Ein Hund zerfleischt ein Mikroschwein.

Das Setting ist so wunderbar und dann entwickelt sich ein Plot, von dem ich auch gut und gern einen ganzen Roman lesen wollen würde. Kurz vor dem Ende ahne ich aber schon, dass ich unbefriedigt sein würde. Gemeinheit. Fast wie Koitus Interruptus. Diese pointenlosen offenen Enden, das scheint sein Markenzeichen zu sein.

 

Der Fünf-Pfund-Burrito

Das ist wieder so eine Geschichte, die interessant beginnt und sich dann auf eine Art und Weise entwickelt, bei der ich denke: "Was soll denn das?". Ich vermute dann einen Sinn, dann geht es doch in eine andere Richtung. Zum Schluss stehe ich vor einem Rätsel. Will der Autor seine Leser*innen ärgern?

So ein Fünf-Pfund-Burrito ist sowohl eine fiese als auch eine nette Idee, auf jeden Fall verhungert niemand. Nur schade für die Lebensmittelverschwendung, es bleiben zwangsläufig immer viele Reste.

Außerdem: Hier gibt es wieder phantastische Elemente (irgendwie), aber nicht bei allen Stories in der zweiten Hälfte des Buchs.

 

Die argentinische Ameise

Das ist gruselig. Nicht nur, dass ich ebenfalls ein Baby im selben Alter habe und nicht möchte, dass er von Ameisen behelligt wird oder Ameisengift isst. Ich hätte auch selber keine Lust auf Ameisen in meinem Haus. Am Ende vermute ich eine Pointe, die kommt irgendwie aber nur fast. Was ich aber sagen muss, nachdem ich ein Dutzend Kurzgeschichten gelesen habe: Allmählich spüre ich es kurz bevor das Ende kommt. Ich scheine mich an seinen Stil zu gewöhnen. 

 

Surtsey

Klimawandel. Eine Insel wird regelmäßig von Stürmen heimgesucht, das Wasser steigt. Die meisten Einwohner*innen versammeln sich in der Schule, so auch Protagonist A. J. und seine Familie. Unter anderem seine übergewichtige, diabeteskranke Mutter. Sie hat ihre Medikamente vergessen. Er zieht los, diese für sie zu holen, doch das Wasser geht ihm teilweise schon bis zur Schulter.

Diese Story hat mir gut gefallen, sehr actionreich und die Perspektive des Schülers A. J. war authentisch und glaubwürdig.

 

Diebstahl und andere Sachen

Wenn dein Auto geklaut wird, ist das nicht gut. Wenn ein Hund drin war, schlechter. Wenn es noch der Hund deiner Freundin war: Sehr schlecht!

Gute Idee, gut umgesetzt, netter Schluss.

 

Ein Tod weniger

Ja, das kann man lesen. Sie gehört nicht zu den besten Geschichten im Buch, ist aber ganz nett.

 

Was Wasser wert ist, weißt...

Das ist definitiv eine der fünf besten Stories des Bandes. Was, wenn es fünf Jahre hintereinander in der Gegend nicht regnet und Wasser immer knapper wird. Das ist mal richtig fies zu Ende gedacht - dabei ist die Geschichte aus der Sicht recht wohlhabender Leute geschrieben (nun, jedenfalls waren sie vor der Dürre wohlhabend). 

Obwohl vergleichsweise harmlos hat mir der Gedanke gefallen, dass alle plötzlich irgendwie riechen, und dass es auch sympathisch ist zu riechen, weil das zeigt, dass man kein Wasser verschwendet.

 

Der Beauftragte

Ein achtzigjähriger Mann bekommt einen Brief. Er ist für ein Millionenerbe vorgesehen. Er ruft die Nummer an und wird gleich geschickt umgarnt. Hart zu lesen.  Sehr gut geschrieben und konzipiert, überraschend und intelligent, dass sogar ich beim Lesen zwischendurch überlegte: Ist das nun eine Betrugsmasche oder geht es doch um etwas anderes?

 

Jesus der Krieger

Der Ich-Erzähler hat mindestens Vorurteile, eigentlich eher Rassismus im Kopf. Ich gehe davon aus, dass es genau darum geht, es war aber dennoch schwer zu ertragen.

 

Der Flüchtling

Das ist quasi aus Versehen topaktuell. Der Protagonist hat eine mutierte Form der Tuberkulose und ist hochansteckend, muss immer eine Maske tragen und bis zu dreißig Monate Medikamente nehmen. Er ist aber dreiunzwanzig Jahre, muss arbeiten und will leben. Sie drohen, ihn einzusperren, wenn er sich nicht an die Regeln hält. Er sei eine Gefahr für die Allgemeinheit. In einer Szene bestellt er sogar Corona-Bier. Wenn das mal kein netter Zufall ist.

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