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Der Clewiston-Test von Kate Wilhelm

Harte Fakten

Titel Der Clewiston-Test
Autorin Kate Wilhelm
Erscheinungsjahr 1976
Seitenzahl 276

Inhalt

Wo soll man da anfangen? Der Roman mag kurz sein, platzt aber geradezu vor Inhalten, die mir teilweise beim Lesen, teilweise erst danach beim Beschäftigen mit der Sekundärliteratur klar werden.

 

Zunächst einmal ist die Hauptprotagonistin Anne Clewiston, die Initiatorin des Tests und geniale Wissenschaftlerin, zum Zeitpunkt des Romans an den Rollstuhl (und später Krücken) gefesselt, da sie sich von einem schweren Autounfall erholt. Dadurch kann sie nicht aktiv am Geschehen im Labor teilnehmen und ist darauf angewiesen, dass ihr die anderen davon berichten. Die anderen, das sind unter anderem ihr Ehemann Clark, der ebenfalls an dem Projekt arbeitet.

 

Die Idee des Projekts stammt von Anne. Menschen empfinden Schmerz unterschiedlich. Es gibt sogar welche, die gar keinen Schmerz empfinden (aus der Popkultur der letzten Jahre bekannt aus einer Folge von Dr. House und der böse Bruder von Lisbeth Salander in der Vergebung-Trilogie). Anne entwirft eine Skala von 1 bis 10. Je höher der Wert, desto weniger stark wird der Schmerz empfunden. Ihr eigener Wert liegt bei 2,4. Ungewöhnlich niedrig. Sie entdeckt und entwickelt ein Mittel, dass diesen Wert steigern kann und beginnt ein Projekt, das zum Zeitpunkt des Einsatzes der Handlung bereits in den letzten Zügen der Schimpansenversuche ist und kurz vor den Humantests steht.

 

Als es im Labor unerwartet Probleme mit aggressiven Affen gibt, unterrichtet Clark sie nicht sofort und lässt sie zunächst im Dunkeln.

Der erste Konflikt des Romans ist also: Etwas stimmt höchstwahrscheinlich nicht mit dem Medikament und die "Leute da oben" wollen trotzdem unbedingt mit den Tests an Menschen beginnen. Der zweite Konflikt spielt sich zwischen Anne und Clark ab. Erstens bevormundet er sie, indem er ihr nicht von den Problemen berichtet. Zweitens durfte sie zunächst keinen Sex haben aufgrund ihrer Verletzungen, inzwischen ist das aber wieder möglich. Das teilt der Arzt ihr mit - und auch ihrem Mann, ohne ihr Wissen. Sie fühlt sich nicht bereit, Clark drängt sich ihr aber auf.  Er schläft mit ihr, obwohl sie klar signalisiert, dass sie dazu noch nicht bereit ist. Ihr wird klar, dass er stets entscheidet, was das Beste für sie ist, über ihren Kopf hinweg. Sie hat das jahrelang nicht bemerkt, sieht es aber plötzlich ganz deutlich. Auch frühere Szenen, die sie damals abgetan hat, fallen ihr nun wieder ein. Er hingegen sieht es nicht, auch nicht, als er darauf gestoßen wird, bleibt blind für diesen Punkt. Diese Beobachtung scheint mir doch sehr wertvoll zu sein und einen wichtigen Teil zum Feminismus beizutragen. Seine Schlussfolgerung auf ihr Verhalten ist aber ganz anders - was ihm letztendlich die Möglichkeit gibt, sehr gravierend und folgenschwer in ihr Leben einzugreifen.

 

Ich hätte allerdings eine Trigger-Warnung gebraucht - oder gebrauchen können - dass Schimpansenbabies auf brutale Art und Weise zu Tode kommen, habe ich nicht gut verkraftet.

Nun ja. Der Roman ist die ganze Zeit über interessant und auch wesentlich leichter zu lesen als "Hier sangen früher Vögel". Es ist eher "Medical Science Fiction", daher hält sich der Weltenbau in Grenzen und ich komme schnell rein ins Setting.

 

Der Schluss ist wahrscheinlich perfekt, hinterlässt mich persönlich aber etwas unbefriedigt. Ein paar Hinweise mehr hätte ich dann doch ganz gut gefunden. Da war der Schluss von "Hier sangen früher Vögel" irgendwie ein klarerer Abschluss, wenn auch der Roman sehr viel schwerer für mich zugänglich war.

 

Auffallend ist, wie gut und treffend die Autorin wissenschaftliche Projekte darstellen kann, in beiden Romanen, die ich bisher von ihr kenne. Dabei hatte Kate Wilhelm selber gar keinen wissenschaftlichen Hintergrund. Es liest sich, als hätte das jemand geschrieben, die jahrelang selber in einem Labor gearbeitet hat. Des Rätsels Lösung findet sich in Judiths Kolumne (siehe auch unten): Die Autorin hat das Observatorium der Star Lane University sehr regelmäßig besucht, so erwachte ihr Interesse an SF und der Wissenschaft.

 

Was sagen andere?

Unterhaltsam fand ich diese Meinung, weil sie sagt, dass der Roman komplett frei von Humor ist. Stimmt. Der Dialog wird hier auch nicht als so stark empfunden - das ist mir beim Lesen wiederum nicht aufgefallen. Die gute Charakterisierung von Figuren war mir vor allem anfangs positiv aufgefallen, vor allem jene der Person Gus war sehr treffend und auf den Punkt.

 

Darüber hinaus habe ich einen sehr professionellen englischsprachigen Podcast gefunden, der das Buch bespricht. Wie ich auch schon in der phantastisch! (oder war es die Quarber Merkur? Die Science Fiction 2019? Allen drei?) gelesen hatte, wird Kate Wilhelm heute oft übersehen, obwohl sie eine große Rolle in der Science Fiction des letzten Jahrhunderts gespielt hat. Fairerweise muss ich warnen: Den Podcast kann man nur hören, wenn man nichts gegen Spoiler hat oder den Roman schon kennt, er fasst ihn nämlich gekonnt und sehr lückenlos zusammen.

 

Diese Besprechung zieht Vergleiche zwischen "The yellow Wallpaper" (von Charlotte Perkins Gilman, Kurzgeschichte von 1892) und dem Clewiston-Test. Obwohl - oder auch gerade weil - die Rezensentin ihre persönlichen Gefühle alles andere als außen vor lässt, halte ich diesen Vergleich und auch die dargestellte Wut (nicht über das Buch, sondern über diese “Daddy knows best”-Attitüde) für sehr gelungen beschrieben.

 

Der gescheiterte Liebesakt (man kann es auch Vergewaltigung nennen) ist für diese Rezensentin das eigentlich schockierende.

 

Das eigentlich schockierende ist aber für viele von uns Frauen eher, dass das Thema 1892 zu Zeiten von "the yellow wallpaper" genauso aktuell war wie 1972, als der Clewiston-Test erschien und das tatsächlich 2020 noch immer ist. Bevormundung von Frauen, Bevormundung der Ehefrau - da kommen wir hoffentlich irgendwann auch mal heraus. Das wahrlich Frustrierende an dem Roman ist für mich, dass der Ehemann es nicht sieht. Nicht nur nicht sehen will, sondern einfach nicht sehen kann, aufgrund seiner Sozialisation im Patriarchat. Dabei ist er ja nicht "der Böse" in dem Roman, er ist einfach nur das Ergebnis seiner Zeit.

 

Über die Autorin

Ich freue mich sehr, dass ich bei Judith C. Vogt eine erst vor zwei Wochen veröffentlichte Kolumne zur Autorin gefunden habe. Das kommt genau richtig!

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Kommentare: 1
  • #1

    Judith (Freitag, 20 November 2020 07:40)

    Vielen Dank für deine ausführliche Rezension! Ich fand das mit den Schimpansenbabys auch sehr schlimm, aber auch das mit der Katze, und natürlich die Psychospielchen, bei denen man irgendwann selbst nicht mehr weiß, ist das Gaslighting oder hat sie vielleicht doch ... brrrr. Sehr gut gemacht und zu unrecht vergessen. Aber gut, dass es tatsächlich eine deutschsprachige eBook-Version gibt!