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Das sterbende Tier von Philip Roth

Inhalt

Fazit für Eilige

Ich plane ausführlich zu lästern, hier also der Reader's Digest: Wer schon immer mal Philip Roth lesen wollte, beginnt besser nicht mit diesem Roman. Alternativen finden sich unten bei "Fazit nach dem Lästern".

 

Diese Rezension enthält Spoiler, insofern man das so nennen kann, es ist ja nicht die Art Roman, die einen klaren Spannungsbogen und eine abenteuerliche Handlung hat.

 

Zum Thema Brustkrebs von einem männlichen Ich-Erzähler zu lesen, der einen schönen Körper mit Fokus auf die weibliche Brust zu schätzen weiß, ist per se in Ordnung. Es erklärt wenigstens zum Teil, dass die weibliche Hauptfigur Consuela zu Beginn des Romans total auf ihre äußeren Reize reduziert und ausführlich beschrieben wird.

Nicht einleuchten will mir, warum sie charakterlich und intellektuell zwingend so einfach gestrickt sein muss und warum das so überdeutlich betont wird. So ist sie nichts als eine schöne Hülle, die sich bei der drohenden Mastektomie (und dem drohenden möglichen Tod!) später um ihre Schönheit sorgt. 

Die Botschaft des Romans ist extrem schwierig. Es ist verständlich, wenn ein Mensch sich bei einer Krankheit um körperliche Versehrtheit sorgt und im Zuge dessen auch um seine Attraktivität. Das erscheint mir hier aber sehr darauf reduziert zu werden, auch aufgrund der Szene einer Nebenhandlung, in der sich eine Frau aufgrund eines Muttermals auf der Brust entstellt fühlt (in einem Roman über Brustkrebs? Möchte der Autor das hier etwa gleichstellen?). 

Außerdem sind die ersten ein bis zwei Stunden aufgrund ihres Fokus auf die Geilheit eines Literaturprofessors Anfang sechzig auf seine Studentinnen Mitte zwanzig schwer zu ertragen. Consuela ist ja keine Ausnahme, er macht das regelmäßig. Ich sehe zwar ein, dass er das genießt, aber muss er mir das in allen Details schildern?

 

Natürlich kann man den Roman auch anders lesen. Es wird zwischen den Zeilen deutlich, dass Autor und Ich-Erzähler hier nicht gleichzusetzen sind (anders als bei den Zuckermann-Romanen, denn der hat einiges mit Roth gemeinsam und gilt als sein Alter Ego). Es scheint dem Autor durchaus bewusst zu sein, dass der Ich-Erzähler ein Macho ist, dem Sex mit schönen Frauen überdurchschnittlich wichtig ist. Dass der Ich-Erzähler eine Depression hat, nachdem Consuela ihn verlässt, habe ich allerdings überlesen (bzw. überhört). Dass er diese am Ende überwindet, erst recht. Die großen Themen Sex, Liebe und Tod habe ich wahrgenommen, werde aber zu sehr abgelenkt von der Besessenheit der beiden Hauptfiguren auf die makellose Schönheit der Frau. Die des Mannes scheint weniger wichtig zu sein, ich erfahre fast nichts über das Aussehen des Erzählers David Kepesh.

 

Ausführliches Lästern

Einigen Autor:innen vertraue ich genügend, um auch über weite Strecken eine Handlung zu akzeptieren, die mir überhaupt nicht zusagt, in der Hoffnung, dass sie auf etwas Sinnvolles hinauswollen. Roth gehört ab sofort nicht mehr dazu. 

 

Bisher hatte ich eher Bücher von Roth gelesen, bei denen es um Nathan Zuckerman ging, als dieser schon sehr alt, inkontinent und impotent war, was sein Schwärmen für Frauen eher auf eine intellektuelle, respektvolle Ebene gehoben hat. Oder eben einen kurzen Roman über einen sehr jungen Mann, der die ersten Erfahrungen mit Frauen macht und sehr rasch in einen Krieg eingezogen wird ("Empörung"). Da ging es aber mehr um das Verhältnis zu seinem Vater und amerikanische Geschichte und Kultur in den Fünfziger Jahren.

 

Hier geht es aber um einen 62jährigen Professor für Literatur, der sich in seinen Oberseminaren immer die hübscheste Studentin ausguckt. Und zwar weil sie hübsch ist. Nur deswegen. Er gibt zwar zu, dass das eine Schwäche von ihm ist, zitiert (m. E. unpassenderweise) Mark Twain und tut so, als sei die hübscheste Studentin auch stets für ihn bestimmt. Dann wird die Studentin beschrieben, um die es in diesem Roman geht: Consuela, Kubanerin, gleichwohl in den USA geboren, mit einem wunderschönen Körper, von der ich nach dem Genuss dieses Hörbuchs jedes Haar kenne. Er beschreibt ausschließlich ihre sexuellen Attribute und andere schmückende Äußerlichkeiten und lässt keinen Zweifel daran, dass es ihm nur um Consuelas Körper geht. Da werden Busen mit einer Pistole verglichen (wtf?) und ihrem Verhalten wird allerhand unterstellt. Könnte sie ihr Jackett nicht auch ausgezogen haben, weil es ihr unbequem war oder es im Zimmer zu warm wurde? Und wieder angezogen, weil es vielleicht doch zog, da jemand ein Fenster geöffnet hatte?

 

Consuela wird als sehr ungebildet und einfach gestrickt beschrieben, am Beispiel von Picasso, den sie nicht versteht und nicht einmal versteht, warum sie ihn nicht versteht. Dann wird ihre Jugend betont (es ist von Eierschalen an der Stirn die Rede, so frisch sei sie geschlüpft). Da es aber nicht mein erster Roman von Roth ist, sondern mein fünfter, halte ich es für möglich, dass der Ich-Erzähler David noch einen ganz gewaltigen Denkzettel bekommt oder ich zwischen den Zeilen Ironie erkenne - das kann Roth doch so nicht ernst meinen, oder?

 

Wirklich besser wird es aber nicht, auch wenn es zum Glück nicht volle viereinhalb Stunden nur um Sex geht.

Die wenigen anderen Frauenfiguren erhalten keine Tiefe, auch wenn diese immerhin nicht so einfach und dumm dargestellt werden wie Consuela. Fairerweise: Auch die Männerfiguren bleiben hier sehr an der Oberfläche, sogar der Ich-Erzähler, der auf seine Fokussiertheit auf schöne Frauenkörper beschränkt bleibt.

 

Eine Stunde vor Schluss gibt es eine immerhin bemerkenswerte Sterbeszene von Davids bestem (und eigentlich einzigen) Freund. Immerhin in David scheint der Ich-Erzähler einen echten Menschen zu vermuten, mehr noch als in seinem eigenen Sohn (der übrigens so sehr am Rande vorkommt, dass man sich die zwanzig Minuten auch hätte sparen können).

Diese Sterbe-Szene (oder vielmehr, eine Szene kurz vor dem Sterben) leitet gut ein zu dem, was dann passiert. Consuela wendet sich sechseinhalb Jahre nach dem Ende ihrer Affäre an David, da sie Brustkrebs hat. Da dieser damals ihre Brüste so bewundert hat, möchte sie, dass er Abschied von ihren Brüsten nimmt, diese fotografiert und auch die Krebstumore befühlt. Eine Szene, die ähnlich schwierig zu lesen ist wie eine Szene weiter vorn im Buch, in dem es sehr konkret um einen Tampon und die weibliche Menstruation geht. 

 

Consuelas Prioritäten werden nicht vollständig klar, aber in mehreren Passagen habe ich den Eindruck, dass sie sich in der Hauptsache um den Verlust ihrer Schönheit und die Verstümmelung sorgt. Und das, obwohl ihr gesagt wurde, dass eine vierzigprozentige Chance besteht, dass sie ihre Erkrankung nicht überlebt. Eine Chemo hat sie bereits hinter sich (und hat alle Kopfhaare verloren), die OP steht noch bevor. 

 

Am Ende, als ich denke, der Roman würde vielleicht doch noch die Kurve kriegen, wird eine Szene beschrieben, in der der Protagonist David mit einer Frau schläft, die als sehr groß und schön beschrieben hat und die, bevor sie sich auszieht, sagt, mit ihr stimme etwas nicht. Es stellt sich heraus, dass es ein rotes Muttermal auf der Brust ist. Echt jetzt, Philip Roth? Mit einer Frau stimmt etwas nicht, weil sie ein Muttermal auf der Brust hat? Und das in einem Roman über Brustkrebs, bei dem eine vierzigprozentige Chance besteht, daran zu versterben? 

  

Immerhin habe ich etwas über Schamhaare gelernt, das ich noch nicht wusste und über die Vulva beim Orgasmus. Wobei es mich nervt, so etwas von einem (offenbar promiskuitiven Mann) zu erfahren, der dies nur weiß, weil er mit x Frauen geschlafen hat. Interessant mag das trotzdem sein, aber es rechtfertigt für mich keine viereinhalb Stunden Hörbuch.

 

Ich kann mich auch für Romane begeistern, deren erzählendes Ich mir unsympathisch ist, bin mir aber nicht sicher, ob das dem Autor hier überhaupt klar ist. Weiß er, dass er einen absoluten Unsympath beschreibt? Jemand, der offenbar keinerlei Respekt vor Frauen hat, sich ärgert, dass er nach der sexuellen Revolution um 1968 herum bereits verheiratet ist und sich dann trennt, um Sex mit möglichst vielen schönen Frauen haben zu können?

Immerhin, ist das hier David Kepesh und nicht Nathan Zuckerman. Zuckerman habe ich beim Lesen anderer Roth-Romane aufgrund seiner Inkontinenz und Impotenz bemitleidet. Nun frage ich mich, ob ich darüber nicht besser froh sein sollte, führt es doch dazu, dass Zuckerman (zumindest als älterer Herr, frühere Romane kenne ich noch nicht) Frauen tatsächlich als Menschen wahrnimmt und nicht nur als Fleischstücke. 

Angesichts dieses Romans hoffe ich für Roth, dass er gewusst hat, dass auch potente Männer in Frauen echte Menschen sehen konnten. Dafür muss man durchaus nicht erst alt, krank und impotent sein - jedenfalls würde diese Sichtweise nicht mit meinem Männerbild übereinstimmen. 

 

Immerhin macht es viel Spaß, sich die Ein-Sterne-Rezensionen bei amazon durchzulesen. Offenbar bin ich nicht die einzige, die ihre Augen hier schmerzhaft verdreht hat. Einige Fünf-Sterne-Rezensionen haben allerdings durchaus Tiefe in dem Roman entdeckt, der an mir allerdings vorbeigezogen ist.

 

Sprache

Wie immer souverän, die Dialoge kamen mir etwas hölzern vor. Normalerweise empfinde ich Dirk van Gunsteren als sehr fähigen Übersetzer, möglicherweise liegt es an Roths Original. Das nächste Buch lese (höre) ich mal auf Englisch und schaue mal, ob da die Dialoge besser flutschen. Vielleicht liegt es hier auch einfach an den gestelzten Dingen, die der 62jährige David zu der jungen Kubanerin sagt und ist Absicht.

 

Fazit nach Lästern

Das einzig Positive daran ist, dass ich so eine Schreibweise von Roth sonst nicht gewohnt bin, so dass ich dazu neige, den Ich-Erzähler nicht mit dem Autor gleichzusetzen und in einigen Sätzen herauszuhören meine, dass der Autor nicht mit der Sichtweise des Erzählers übereinstimmt.

 

An sich lese ich zwischendurch ganz gern mal Philip Roth. Er ist nicht mein Lieblingsautor dieser Art (das wäre ganz klar Paul Auster und das schon seit 1998), aber durchaus jemand, dem ich gern mal ein paar Stunden folgen. Dies ist mein fünfter Roman von ihm innerhalb von einem Jahr.

 

Bisher habe ich gelesen:

 

Exit Ghost (von 2007, gelesen im Juli 2020)

Das war damals ein guter Einstieg. Obwohl es eines der letzten Bücher über Roths Alter Ego Nathan Zuckerman ist, war es bisher immer noch das beste Roth-Buch, das ich bisher gelesen habe. Bis auf die erdachten Dialoge zwischen Zuckerman und der jungen New Yorkerin, die (zumindest im Hörbuch) nervtötend waren, hat mir dieser Roman außerordentlich gut gefallen und ist immer noch der Grund, warum ich alle paar Monate wieder zu Roth zurückkehre. Und das, obwohl ich ein Lese-Erlebnis dieser Qualität bisher nicht wiederholen konnte.

 

Amerikanisches Idyll (von 1997, gelesen im November 2020)

Deutlich mehr Handlung als "Exit Ghost", dafür geht es weiter weniger zum Zuckerman, sondern um "den Schweden", einen Mann, der vorrangig Vater einer sehr schwierigen Tochter ist, die Terroristin wird. Krasses Thema, überzeugend umgesetzt. Den Film konnte ich mir nicht anschauen, da kam mir das Thema dann zu nah.

 

Empörung (von 2008, gelesen im Februar 2021)

Kann man machen, würde ich aber nicht als erste Lektüre empfehlen. Interessant daran ist das Setting und die überzeugende Darstellung der damaligen Zeit. Ich spüre beim Lesen an jeder Ecke diese Zugeknöpftheit und bemitleide den Ich-Erzähler, wäre er ein paar Jahrzehnte später geboren, er hätte ein Leben haben können.

 

Der menschliche Makel (von 2002, gelesen im März 2021)

Obwohl es wohl das bekannteste Buch von Roth ist, fand ich es am wenigsten überzeugend. Es geht ganz gut los, aber dann kommen irre viele langatmige Szenen. Zum Glück hatte ich es als Buch, nicht als Hörbuch, da konnte ich stellenweise "schneller lesen". Dabei hat es ein interessantes Thema behandelt und Aspekte von Rassismus thematisiert, die ich mutig und überzeugend dargestellt fand. 

 

Kehre ich also zu Roth zurück? Ja. Trotzdem. Mindestens "The Plot against America" muss ich noch lesen. Das liefe dann unter dem Motto: Roth meets Science Fiction. Das würde ich dann auch endlich mal auf Englisch probieren (es gibt kein deutschsprachiges Hörbuch und auf dem Lese-SuB liegt zurzeit zu viel, da brauche ich zurzeit keine neuen Bücher). Aber nach diesem Roman brauche ich mal eine längere Roth-Pause.

 

Der Sprecher

Max Volkert Martens ist in Ordnung. Mich nervt aber, dass die Sprecher bei den Roth-Romanen so viel wechseln. Ich fand Peter Fritz bei Exit Ghost besser (die ältere Stimme hat gut gepasst), bei Empörung war es wieder wer anders (OK, hier war der Ich-Erzähler auch jünger). Jetzt habe ich drei Romane von Roth als Hörbuch gehört und hatte drei verschiedene Erzähler. Ich bin ein Fan davon, wenn jemand mehrere Romane eines Autors liest.

Harte Fakten

Titel Das sterbende Tier 
geschrieben von Philip Roth 
übersetzt von Dirk van Gunsteren 
Erscheinungsjahr 2003 
Seitenzahl 168 
Länge Hörbuch 4 Std. 27 
eingesprochen von Max Volkert Martens 
Original Twitter Tweet https://twitter.com/Rezensionsnerd1/status/1405415806981361664 

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