Warum Top-15?
Mehr als 400 Kurzgeschichten aus dem Jahr 2021 sind mir bekannt, mehr als 300 davon habe ich gelesen.
Die besten fünfzehn bespreche ich hier (oder auf bereits erfolgte, sehr ausgiebige Rezensionen verweisen). Beim Wiederlesen und (Wieder-)Rezensieren habe ich mir dann sogar mutig eine Reihenfolge überlegt.
Wer ist in der engeren Auswahl?
Das ist Stand heute auch die Hitlist, meine Lieblingsgeschichte zuerst und dann weiter bis Platz 15.
An dieser Stelle der Hinweis - bei mehr als 300 Kurzgeschichten finde ich auch Platz 15 noch sehr bemerkenswert.
Da es sicher auch für die Verlage und Magazine schön ist, zu wissen, was sie so tolles herausgegeben haben, habe ich Verlage o. ä. ebenfalls aufgelistet.
Autor:in | Titel | Wo erschienen? | Verlag oder Magazin | |
1 | Mira, Aiki | Vorsicht, synthetisches Leben! | Exodus 43 | Exodus Magazin |
2 | Rehak, Janika | Onkel Nate oder die hohe Kunst, aus dem Fenster zu schauen | Am Anfang war das Bild | Hirnkost Verlag |
3 | Mira, Aiki | Utopie27 | Am Anfang war das Bild | Hirnkost Verlag |
4 | Krieg, Lisa Jenny | Notizen zur Beobachtung von Schildkröten nach einer Bruchlandung | Exodus 42 | Exodus Magazin |
5 | Schumacher, Marc | Inselnovellen. Oder das Kartoffelgeld | Magic Future Money | Aprycot Media |
6 | Hermeneit, Sonja | JobXChange - ein Leben, dreißig Jobs | Future Work | KIT Scientific Publishing |
7 | Reß, Alessandra | Dialog im Baltikum | Future Work | KIT Scientific Publishing |
8 | Mira, Aiki | Universum ohne Eisbärin | c't | c't Magazin |
9 | Schmitt, Carsten | Die Frau in Zimmer 9 | Magic Future Money | Aprycot Media |
10 | Fildebrandt, Uwe | Der mythische Monat | c't | c't Magazin |
11 | Jänchen, Heidrun | Die große Stille | Macht und Wort | Hirnkost Verlag |
12 | Francis, Juliette S. | Xtra Watt | Magic Future Money | Aprycot Media |
13 | Behrend, Gabriele | Fanny nimmt sich Zeit | Die Liebesmaschine | p.machinery |
14 | Stöbe, Norbert | Das Ding | Exodus 43 | Exodus Magazin |
15 | Hein, Nora | Bürger 39 | Diagnose F | p.machinery |
Die Anthologien und Magazine
Die Storys in der c't habe ich bisher nicht öffentlich rezensiert, Macht und Wort ebenfalls nicht (werde ich wahrscheinlich auch nicht), aus Die Liebesmaschine von Gabriele Behrend habe ich tatsächlich nur die beiden relevanten Geschichten für 2021 gelesen und daher den gesamten Band hier nicht rezensiert.
Magic Future Money habe ich in dieser Woche erst vollendet und werde das voraussichtlich nicht in der Gesamtheit rezensieren, aber drei der Storys haben es ja unter meine Best-Of geschafft, dann reicht es ja, wenn ich die bespreche.
Exodus 42 und 43 habe ich ausführlich besprochen, ebenso wie Diagnose F, Future Work und Am Anfang war das Bild.
In 2021 habe ich übrigens 29 Anthologien und Magazinausgaben gelesen. Vieles war lesenswert, aber von den mehr als 300 Kurzgeschichten musste ich mich beschränken und werde mich auch noch weiter einschränken müssen, denn niemand lässt mich fünfzehn Storys nominieren.
Bereits ausführlich rezensierte Storys
Vier der Kurzgeschichten habe ich erst kürzlich ausführlich rezensiert, das werde ich hier nicht wiederholen und die Geschichten habe ich auch jeweils schon zweimal gelesen und habe sie noch sehr frisch im Kopf:
Mira, Aiki: Vorsicht, synthetisches Leben
Rehak, Janika: Onkel Nate oder die hohe Kunst aus dem Fenster zu schauen
Die anderen nehme ich mir hier noch mal - oder erstmalig - vor.
Gabriele Behrend: Fanny nimmt sich Zeit
Die Geschichte habe ich vor Monaten gelesen und als "gut" markiert, lese sie daher jetzt erneut, um sie genauer zu betrachten, auch mit den vierzehn anderen sehr guten Geschichten im Hinterkopf.
Sprachlich
Es ist toll. Die beschreibenden Details sind super. Alleine schon die Schilderung des Asphalts am Anfang. Das ist einfach besonders. Ich würde am liebsten ganze Passagen zitieren. Und trotz der eigentlich passiven Pflanzen, die beschrieben werden, schafft die Autorin es, starke und aktive Verben zu nutzen wie "Seitlich nickten buschige Sträucher der alten Dame zu". Über die Sprache und den Stil braucht hier niemand zu meckern.
Außerdem gelingt hier ein ganz sanfter Humor, trotz des ernsten Themas der Story.
Inhaltlich
Die Protagonistin Fanny ist 65 Jahre alt und seit elf Jahren Witwe. Ihre Trauer wird gut und anhand alltäglicher Details eingefangen. Ich bin gleich bei ihr, in ihrer mit Wut vermischten Traurigkeit, weil es sich echt und einfach authentisch liest. Zu Tode geraucht hat ihr Mann sich, der Willem, und sie nimmt ihm das übel.
Sie wird zurückversetzt an ihren Hochzeitstag, ein junger, gesunder Willem, und eine junge Fanny, mit allem noch vor ihr, nichts wissend über ihre Zukunft. Sie ist auch tatsächlich dort, vor Ort, als alte Dame, und schaut ihrem jüngeren Selbst zu.
Der Twist ist ein wenig fies - die Idee, die der alten Fanny kommt, ist nicht ganz fair. Aber es ist immerhin ein großer Eingriff in ihre Vergangenheit, der interessant zu werden verspricht.
Dann kommt ein harter Bruch und ein zweiter Teil, ich als Leserin begleite eine jüngere Fanny, die offenbar nicht in der Zeit reist. Dies ist eine andere Version von Fanny, eine, deren Leben am Hochzeitstag von der älteren, zeitreisenden Fanny beeinflusst worden ist. Eine mit Tochter, nicht die Vorversion ohne Tochter.
Doch dann gibt es noch einen dritten Eingriff, eine dritte Version von Fannys Leben.
Die B-Story ist ziemlich gut, wenn auch nicht neu. Es gibt Entscheidungen, die unseren Lebensweg stark beeinflussen, aber keine davon ist wirklich perfekt. Prämissen, wie sie auch beispielsweise in dem Roman "Die Mitternachtsbibliothek" in verlängerter Version gibt.
In der Kürze ist es jedoch hier gut vermittelt, weshalb die Kurzgeschichte für mich ein Highlight darstellt - plus, die Sprache, es ist einfach gut erzählt und schön zu lesen.
Carsten Schmitt: Die Frau in Zimmer 9
Gerade erst gelesen, aber noch nicht rezensiert. Dafür lese ich es dann besser gleich nochmal.
Es startet mit einem starken Satz: "Die Frau in Zimmer 9 stirbt und es ist Schröders Job, das unvermeidliche so lange herauszuzögern, wie es geht"
Danach könnte ich bejammern, dass es nicht szenisch ist, sondern eher zusammenfassend Informationen an mich bringt: Wer ist Schröder: Ein Onkologe, viele Eckdaten werden mir geliefert, die eigentlich nicht wichtig sind (und, btw. das mit den zwei Geliebten hatte ich beim ersten Mal wohl überlesen). Wobei, man könnte argumentieren, dass diese Eckdaten eben doch wichtig sind, weil wir uns ein Bild von ihm machen, ein Bild, das eher auf einen oberflächlichen Karrieretyp mit zweifelhafter Moral hindeutet und das macht das, was nun geschieht und wofür er sich entscheidet, noch bemerkenswerter.
Auf Seite 3 kommt dann auch das Rätsel - die Frau in Zimmer 9, Ksenia, ist laut eigenen Angaben erst seit einer Woche krank. Aber dafür ist ihr Krebs schon viel zu weit fortgeschritten. Was stimmt hier nicht? Schon bin ich geankert. Und der Onkologe Schröder beginnt, das Rätsel zu untersuchen.
Einige Figuren werden vielleicht ein wenig zu unsubtil beschrieben, sehr gelungen finde ich hingegen die Zeichnung der jungen Frau Saha im Labor: Zu großes Bandshirt, abgekaute Fingernägel.
Die Dialoge sind gut. Professionell. Nicht zu viel eingeleitet und sie klingen einfach echt. Passen zu den Figuren. Kryptowährungen werden im Dialog erläutert, aber es wirkt wie ein echtes Gespräch, nicht wie Info Dump. Zunächst ist mir nicht klar, was die Frau in Zimmer 9 damit zu tun haben könnte, dann aber wird es nachvollziehbar - und beeindruckend. Der Plottwist ist es, der mich diese Geschichte in meine Highlights einreihen lässt. Die Idee der Speicherung auf DNA und der Auswirkungen. Die Kombination bekannter Themen zu etwas völlig Neuem. Ich habe schon zu viel verraten.
Der Schluss ist krass. Waghalsiger Protagonist, aber glaubhaft.
Juliette S. Francis: Xtra Watt
Personale Perspektive, geschrieben in der Vergangenheitsform. Eine Hauptfigur: Serena.
Hundertprozentig szenisch und keine stilistischen Experimente.
Hier strampeln sich die Leute im wahrsten Sinne ab: Sie erzeugen Strom, indem sie in die Pedalen treten. Aber was ist, wenn man zu krank ist, um Strom erzeugen zu können? Und es gibt auch noch andere Arbeit, die getan werden muss. Watt, das ist die Währung in dieser Kurzgeschichte. Und es erklärt sich alles durch die Handlung.
Doch es gibt auch noch andere Möglichkeiten, an Geld zu kommen. Man kann beispielsweise sein Körperfett verkaufen. Auch für fettleibige Menschen unattraktiv, da es illegal ist und lebensgefährlich sein kann.
"Xtra", das ist eine Droge, die es ermöglicht, länger strampeln zu können. Doch auch die kostet. Fies auch, wenn man gezwungen ist, dringend erforderliches Equipment zu verkaufen. Wie Solarpanelen, die einem doch ab Frühling Watt einbringen würden. Und dann im Frühling noch immer pleite zu sein und sie nicht zurückkaufen zu können. Noch mehr strampeln müssen. Eine Abwärtsspirale, die aus dem echten Leben nur zu bekannt ist. Böse Geschichte mit bösem, aber glaubhaftem Ende. Dystopisch, fühlt sich alles sehr echt an.
Und es gibt noch eine Nebenbotschaft, die mir erst einen Tag nach dem erneuten Lesen aufgefallen ist: Möglicherweise liegt der Reiz der Droge "Xtra" auch darin, dass es befriedigend ist, viel zu schaffen und schaffen zu können. Hier liegt quasi eine C-Story. Schon cool.
Marc Schumacher: Inselnovellen. Oder das Kartoffelgeld
Eigentlich geht es hier nicht um ein allgemeines Zahlungsmittel in der Zukunft. Es ist eher eine postapokalyptische Was-wäre-wenn-Geschichte, ein wenig ungewöhnlich erzählt, packt einen hintenrum. Ich habe gleich nachdem ich sie fertiggelesen habe, erneut von vorn begonnen und die Hinweise besser beachtet.
Die Geschichte spielt auf einer Insel und der Erzähler ist nicht direkt zuverlässig, aber ein stoischer Beamter ist er eben auch nicht. Die Insel ist weit weg vom Festland, zu weit, 3000 Kilometer werden irgendwo erwähnt. Fast alles wird von außen angeliefert. Dann fällt eines Tages der Strom aus. Zunächst laufen die Notstromaggregate noch, doch bald wird absehbar, dass auch der Diesel dafür knapp wird und eine Diskussion darüber geht los, wer den Strom wofür dringender braucht. Und natürlich wird auch die Nahrung knapp, auch wenn etwas gefischt werden kann (aber aufwändig und gefährlich). Daher: Kartoffelgeld.
Vom Rest der Welt erfahre ich nichts. Ich kann nur rätseln. Es bleibt ein sehr enges Setting. Viel steht zwischen den Zeilen, auch, weil der Ich-Erzähler eben seine ganz eigene Art und Reihenfolge hat, Dinge zu erzählen und zu gewichten.
Es sind zwei Dinge, die mich gegen Ende hin richtig mitnehmen. Es wird angedeutet, dass es auf der Insel zwei Lager gibt: die Einheimischen und die anderen von der Station. Als das Versorgungsschiff Termin um Termin verpasst und niemand kommt und die Situation längst so desolat ist, dass man das Knochenmark der Verstorbenen aussaugt, kommt es zu einer Konfrontation, die der Ich-Erzähler zwar nicht im Detail schildert, sondern nur in bemerkenswerten Schlaglichtern. Richtig mitgenommen hat mich dann folgende Passage:
"Man zog die anderen aus und hängte sie an den Füßen auf, sodass sie mit den Köpfen einen Meter über der Erde baumelten. Mager waren sie und schmutzig. Sie schlachteten sie und aßen sie trotzdem. Sie hatten nicht verstanden, dass es keine anderen gibt. Sie aßen sich selbst."
Natürlich ist es nicht gerade subtil, doch wie die Geschichte sich aufbaut, ist es so genau richtig. Der Schluss ist dann fast friedlich.
Für jemanden wie mich, die eine gute Postapokalypse stets irgendwie genießt, genau das richtige.
Ulf Fildebrandt: Der mythische Monat
Obwohl diese Story in der c't erschien, ist sie etwas länger, sie wurde in zwei Teilen publiziert.
Ein Mann, Erik, erhält einen überraschenden Auftrag, den er annimmt, weil er extrem gut bezahlt wird. Er soll quasi spionieren, bei einer Firma namens "Alta", weil eine Frau, Saskia, findet, dass ihr Freund Ralf sich seltsam benimmt und dieser arbeitet dort. Alta erledigt die Aufträge in auffallend kurzer Zeit - das macht beim zweiten Mal Lesen, wenn man die Auflösung kennt, übrigens noch mehr Spaß als beim ersten Mal.
Kaum arbeitet Erik bei Alta, fallen ihm auch schon seltsame Dinge auf. Wohin kommen zum Beispiel die Unmengen von Lebensmitteln, die in Lastwagen angeliefert werden?
Als nächstes bekommt Erik ein Videogespräch zwischen Saskia und Ralf mit und beobachtet Ralf dabei genau - bei den Beobachtungen, die er da macht, kommt mir schon ein Verdacht, der sich später auch als zutreffend herausstellt.
Die Idee gefällt mir außerordentlich gut und sie ist auch gut verpackt, schön zum Mitraten wie bei einem guten Krimi. Spaß macht auch, wie lange Erik braucht, um zu begreifen, was vor sich geht - und es ist realistisch, schließlich hält es sich nicht an die ihm bekannten Naturgesetze.
Der Konflikt, der auf Erik wartet ist interessant genug, dass ich mir überlege, wie ich mich wohl entscheiden würde. Ich bin ausreichend in den Plot involviert, um ein wenig "Sense of Wonder" zu spüren. Herrlich!
Die Entscheidung des Ich-Erzählers begrüße ich. Die Wendung mit Saskia und Ralf gefällt mir ebenfalls, vielleicht waren einige wenige Ideen und Sätze ein bisschen zu klar für meinen Geschmack.
Sprachlich ist es klar, keine Experimente, nichts, was ich mir über den Schreibtisch kleben möchte.
Fazit: Tolle Idee, schön umgesetzt!
Aiki Mira: Universum ohne Eisbärin
Das hätte ich längst rezensiert, aber man kommt ja nicht so leicht an die c't Storys ran. Inzwischen wurde aber die Hörversion für Podyssey vertont.
Beim Einstieg gefällt mir gleich, dass "Tegos" erwähnt werden, aber nicht erklärt. Das ergibt sich dann aber rasch aus der Handlung. Ein Neurochip, der im Ohr steckt und offenbar das Langzeitgedächtnis beinhaltet. Schön auch, dass das Paar aus zwei Frauen besteht.
Recht rasch wird die Tochter der beiden erwähnt und subtil scheint die Sorge durch.
Recht rasch erklärt sich der Titel: Eisbären sind ausgestorben, die letzte Eisbärin starb, als die Tochter geboren wurde.
Jene Tochter ist inzwischen selbstständig und eine Klimakämpferin.
" Eine Melodiescherbe, bloß fünf Sekunden lang. Das Echo der Eisbärin.
Unsere Kleine schickte es mir am Abend ihres siebten Geburtstags."
Ich kann nicht wirklich mehr über die Geschichte sagen, ohne schlimm zu spoilern. Es geht um Liebe und darum, Entscheidungen zu treffen, auch über den Kopf einer geliebten Person hinweg. Schön
ist, dass man zu der Entscheidung der Ich-Erzählerin auf unterschiedliche Weise stehen kann, es verurteilen oder auch begrüßen.
Darüber hinaus geht es um Trauer und darum, was aus Menschen werden kann, vor allem aus Kindern, die man liebt.
Die Kurzgeschichten schafft es, in wenigen Seiten alles zu sagen, wofür Philip Roth mit "Amerikanisches Idyll" fast fünfhundert Seiten gebraucht hat und dem noch etwas hinzuzufügen. Ich finde sie großartig.
Sprachlich ist sie ebenfalls sehr schön, und dennoch auch klar und gut zu verstehen, zwar subtil, aber auch direkt genug, dass man mit einem Lesen schon den Kern erfassen kann.
Lisa Jenny Krieg: Notizen zur Beobachtung von Schildkröten nach einer Bruchlandung
Es ist so lange her, dass ich das gelesen habe, da lohnt sich ein Wieder-Lesen und Wieder-neu-Rezensieren.
Schöner, visueller Einstieg. Die Ich-Erzählerin ist in argen Schwierigkeiten, sie ist auf einer Insel gestrandet, auf der es viel zu hell ist und die Sonne brennt. Sie selbst scheint auch leichten Schaden bei der Bruchlandung genommen zu haben, wenn man ihre Symptome so liest, aber es bleibt leicht unklar und subtil. Ihre Erinnerungen sind jedenfalls unvollständig oder fehlen gänzlich.
Schön eklig, sie erbricht sich und die Schildkröten machen sich darüber her. Da muss ich gleich an all die ekelhaften Szenen meines Lebens denken, in denen sich Hunde und Katzen so verhalten haben, igitt, ich kriege gleich selber einen komischen Geschmack im Mund.
Herrliche Sprache!
"Ein zischender Berg von Metall, Schichten von Silber, Aluminium und Dymonit lagen gänzlich falsch gefaltet aufeinander, geschwärzt durch Feuer
und Ruß, zerrissen wie Papier. "
Und so geht es weiter - sprachlich ganz weit vorn.
Das Zusammenleben mit den Schildkröten ist faszinierend. Die führen die Erzählerin zu einer "dickflüssigen Pfütze", so dass sie trinken kann. Auch sehr ekelhaft übrigens.
Auch Thema: Menstruation. Extra nervig, ein weiteres Problem für die Erzählerin, die schon genug am Hals hat.
Je länger sie auf der Insel mit den Schildkröten ist, desto verzweifelter werden ihre Ideen. Das alles wird nachvollziehbar geschildert und die Steigerung ist beängstigend.
Es gibt auch immer mal wieder hoffnungsvolle Momente und Ideen, oder Erinnerungsfragmente, die zurückkommen, doch die Richtung geht nicht gerade in ein Happy End.
Der Schluss lässt zwar streng genommen zwei Deutungsmöglichkeiten zu, doch ich vote dafür, dass es nur eine gibt und es sich um eine inzwischen extrem unzuverlässige Erzählerin handelt.
Großartig erzählt. Sprachlich einwandfrei. Viele tolle Stellen. Wandert nach dem zweiten Lesen auf jeden Fall weiter nach vorn in der Hitlist.
Nora Hein: Bürger 39
Es ist so lange her, dass ich das gelesen und rezensiert habe, da lohnt sich ein Wieder-Lesen und Neu-Rezensieren.
Es beginnt extrem szenisch, mit Dialog, und es wird uns nicht erklärt, wer spricht, aber es wird rasch klar, dass David ein Mensch und Lori seine "bemutternde" KI ist. Diese Art KI ist gerade "in" - ich habe mindestens ein dutzend solcher Geschichten von 2021 gelesen, vermutlich eher mehr. Doch hier ist es schön gemacht, weil eben so wenig erklärt wird, eher gezeigt, und die Geschichte mehr als nur diese Komponente zu bieten hat.
Interessant auch, dass Lori hier keine körperlose KI ist, sondern durchaus eine, die auch mal stolpern kann, um die sich also auch Hauptfigur David Sorgen machen kann. Plus, es gibt mehr als nur eine KI in Davids Haushalt.
Ein oder zwei "Ich sag mal, wie es ist, statt den Lesenden alles zu überlassen", gibt es in der Story aber schon, was schade ist. Das hätte man noch besser lösen können.
Und sprachlich ist es nicht immer ganz rund.
Andererseits ist es der Autorin gelungen, einige tolle Details zu nehmen, die der Story Lebendigkeit verleihen. Wie zum Beispiel, dass es den KIs gelingt, das Badewasser auf der perfekten Temperatur zu haben, bevor David einsteigt. Er denkt: "Welche Enttäuschung! Manchmal wünschte er sich dieses Gefühl zurück, dieses leichte Ziepen, das er früher gespürt hatte, wenn er den Zehn in das heiße Wasser gehalten hatte." Damit kann ich viel anfangen.
Köln hat übrigens nur noch 39 Einwohner:innen, und David soll wohl Nummer 29 sein, daher der Titel. Draußen ist es extrem kalt. Und ja, es hat eine Pandemie gegeben, die die Bevölkerung extrem dezimiert hat.
Stellenweise gibt es schon Passagen, die nahe am Infodump sind, das hätte man noch szenisch lösen können, zumal der Protagonist auch irgendwann mit "Doktor Call", seinem Therapeuten, spricht. Dieser wird als Hologramm projiziert.
Schön finde ich, dass unklar bleibt, ob Doktor Call ein Mensch oder auch eine KI ist (wobei David eine Vermutung hat, die auch schön begründet wird).
Neben seinen anderen Problemen wie Depressionen, fängt David dann an, in seinem Garten Kinder zu sehen.
Es gibt eine Pointe, aber die hatte ich irgendwie besser in Erinnerung.
Trotzdem starke Story.
Sonja Hermeneit: JobXChange - ein Leben, dreißig Jobs
Zunächst dachte ich, die Story soll nur witzig sein. Ist sie aber nicht. Sie hat einen Sinn - sogar für mein echtes, eigenes Leben - und sie hat mich nachhaltig beeindruckt. Eine der wenigen Storys, aus denen ich tatsächlich etwas für mein eigenes Leben mitnehmen kann, das sich praktisch auswirkt. Und absolut glaubhaft.
Eine Bibliothekarin (die Ich-Erzählerin) soll ihren Job wechseln und fortan als Medizinerin arbeiten. So wie die Geschichte startet, rechne ich zunächst mit viel Humor, doch das Thema nimmt mich bald gefangen. Es soll nämlich gar nicht absurd sein, das regelmäßige Wechseln des Jobs hat einen wissenschaftlichen Hintergrund. Natürlich möchte die Hauptfigur, Christina Haller, ihren Job eigentlich nicht wechseln, bis zur Rente ist es nicht mehr lang (sie ist 57) und sie fühlt sich als Bibliothekarin wohl. Gerade auf Ältere wirkt sich ein Jobwechsel positiv aus.
Es betrifft nicht nur Christina, auch die Person, die sie im Job-XChange Call Center erreicht, hat kürzlich ihren Job gewechselt, berichtet aber positiv davon.
Und genau das ist dann auch das Thema: Christina wird Ärztin und geht darin auf. Dank des technischen Fortschritts ist sie dazu auch in der Lage und es gelingen ihr einige sehr gute Diagnosen. Ihre Vorerfahrung als Bibliothekarin befähigt sie sehr gut und was ihr an Routine und Geschick fehlt, erledigen die Maschinen. Sie erlebt den Flow, den man tatsächlich von der hohen Lernkurve zu Beginn einer Tätigkeit kennt - und den man irgendwann vermisst, wenn sich im Job nichts tut.
Ich habe tatsächlich aufgrund dieser Geschichte in meinem eigenen Job (in einer Bibliothek übrigens) in Eigeninitiative nach neuen und sinnvollen Betätigungsfeldern gesucht. Betriebsblindheit und Routine sind nämlich echte Gefahren. Auch ich vermisse das Gefühl der Euphorie zu Beginn, als noch alles neu war (nun, kurz nachdem es beängstigend neu war). Die Botschaft der Story ist tatsächlich klasse.
Klar, rein stilistisch sind hier sicher mehr Adjektive und Adverbien zum Zug gekommen, als es unbedingt notwendig gewesen wäre. Aber es ist gut und klar erzählt, szenisch, mit sympathischen Figuren. Und es fügt doch tatsächlich dem SF-Kanon neue Ideen hinzu.
Zur Abwechslung ist es auch nett, mal keine Dystopie zu lesen und ein glaubhaftes Happy End, das mir weder ermogelt noch zu naiv erscheint. Zu Recht ein Highlight. Auch beim zweiten Lesen.
Alessandra Reß: Dialog im Baltikum
Ruhige Story mit krasser Botschaft, die ich sowieso gern noch einmal lesen wollte.
Eine eher kurze Geschichte. Super Setting, toll beschrieben, eine Zugfahrt durchs Baltikum. Es hilft, dass ich dort auch schon war (Estland und auch Lettland).
Hier fährt Epa, eine ältere Dame, und eine junge Frau, Masha, setzt sich zu ihr. Zunächst macht es den Eindruck, als sei die junge Frau nur ein weiterer Fahrgast, der sich unterhalten will, doch bald wird klar, dass es sich anders verhält, was ich als Leserin selber entdecken darf (gut erzählt!).
Schon auf Seite 1 wird klar, dass Epa für das Gespräch wird bezahlen müssen und ich weiß, es handelt sich um eine Art Dienstleistung.
Das Gespräch verläuft dann so, wie wir Gespräche mit zufälligen Fremden im Zug auch gewohnt sind. Eckdaten zur Familie, wohin man unterwegs ist, was draußen eine Bedeutung trägt, persönlich oder allgemein. Nichts besonderes eigentlich, aber dann eben doch, weil es einen neuen Kontext hat.
So ein Dialog ist eben nicht mehr kostenlos und was sie aus dem Fenster sehen, ist auch nicht echt, was zunächst angedeutet und später ganz offen aufgedeckt wird. Und wir erfahren ein paar echte Details aus Epas Leben.
Wieviel hingegen an Masha echt ist, bleibt offen. Für mich war sie ein künstlicher Mensch. Aber sie könnte auch echt gewesen sein, inklusive all ihrer Details. Wer weiß.
Heidrun Jänchen: Die große Stille
Die Anthologie habe ich verliehen, daher muss ich das Wieder-Lesen hier verschieben und mich auf meine Notizen stützen.
Erinnert aus naheliegenden Gründen an "Speech Sounds" von Octavia Butler, ist aber ausreichend anders und sehr "deutsch" (Bürokratie, Politik, deutscher Humor).
Ein sehr hoher Prozentsatz von Menschen verliert das Hörvermögen. Geschildert wird aus der Sicht einer von Geburt an gehörlosen Person, Luz, die der Gebärdensprache und des Lippenlesens kundig ist. In einer extrem guten Einstiegsszene beim Brötchen-und-Kaffee-kaufen bekommt sie einen Job bei einem Abgeordneten. Während des Jobs freundet sie sich mit einer anderen Übersetzerin an, einer, die noch hören kann.
Es folgen viele nette Detail-Ideen.
In der zweiten Hälfte der Geschichte hätte womöglich noch mehr aus der Idee gemacht werden können.
"Zeichensprache" würden Gehörlose das nicht nennen, sondern "Gebärdensprache". Ich muss hier ein wenig klugscheißen, da ich ein Sensitivity Reading von einem Gehörlosen hatte, als ich in 2020 mal eine (völlig andere und auch nicht SF) Geschichte aus der Sicht einer gehörlosen Person verfasst hatte.
Schöne Geschichte mit viel Humor, sehr gut und realistisch geschildert.
In eigener Sache
Ich hatte das zunächst nur bei Insta und FB eingestellt, und zack, einige von den erwähnten Autor:innen haben dann selber bei twitter gepostet - ich mach das jetzt auch mal endlich selber :-)
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