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Cybionic: Der unabwendbare Anfang von Meike Eggers

Inhalt

Berliner Lokalkolorit. WGs im Prenzlauer Berg Altbau. Uni-Atmosphäre, Mauerpark, knarrende Dielen im Treppenhaus. Die Atmosphäre in diesem Roman ist toll - plus, die Figuren sind nahbar und das Rätsel ist spannend.

 

Ksen, die Schwester des Architekturstudenten Sala ist verschwunden. Gemeinsam mit Ksens Freundin Antonia macht er sich auf die Suche nach ihr. 

Sala und Ksens Hintergrund - sie sind als Kinder aus Tschetschenien nach Deutschland geflüchtet - wird hervorragend herausgearbeitet.  Ihre vollen Namen lauten übrigens "Ksenija" und "Salavdi".

Was das Aufwachsen in Tschetschenien und die Flucht für Salas Kindheit bedeutete, wird immer mal wieder angenehm subtil gezeigt. Beispielsweise kann Sala kaum schwimmen, weil das Freibad sehr früh zerstört wurde. Das fand ich sehr gelungen.

 

Offenbar hat Ksen kurz vor ihrem Verschwinden ein Foto entwendet. Nach einiger Recherche finden Sala und Antonia heraus, dass das Foto Ella Wiese zeigt. Eine Frau, die während des zweiten Weltkriegs verschwunden ist und früher in dem Haus gewohnt hat, in dem Ksen nun (seit kurzem) in einer WG wohnt.

 

Die SF-Komponente entfaltet sich nur allmählich, weshalb der Roman sehr gut für SF-Neulinge geeignet ist, mehr dazu weiter unten. 

 

Lob und Kritik

Die Autorin kann Action. Oh, sie kann Action. Es gibt zwei sehr eindrückliche Szenen: Einmal gibt es ein spannendes Ereignis, während Sala in der U-Bahn, der U8 unterwegs ist. Und kurze Zeit später hat er ein Erlebnis mit Ksens Handy. Beide Szenen sind extrem gut aufgebaut und entfalten sich aus meiner Sicht perfekt.

 

Der Showdown bietet auch einige sehr gut geschriebene Actionszenen, die musste ich aber schnell lesen, weil ich unbedingt wissen musste, wie es ausgeht. Außerdem waren die in ihrer Blutigkeit etwas überraschend. Damit hatte ich aufgrund des eher ruhigen Beginns nicht gerechnet und hatte daher Schwierigkeiten, mich darauf einzulassen. Möglicherweise wird aber auch vom Verlag und von den Leser:innen ein extrem spannender Showdown einfach erwartet. Für mich persönlich hätten leisere Töne hier besser gepasst.

 

Gut hat mir außerdem das Thema der Frauen in der Informatik gefallen. Vor allem die gut recherchierten Fakten, dass Frauen während des zweiten Weltkriegs in eher technischen Berufen gearbeitet haben, beispielsweise als Morserinnen oder gemeinsam mit Turing an der Entschlüsselung der Enigma.

 

Mehr Lob und Kritik unten im Abschnitt "Romanfiguren".

 

Fazit

Dieser Roman ist perfekt geeignet, um Leute erstmalig für SF zu begeistern. Damit hat die Autorin etwas geleistet, das ich sehr wichtig finde.

Hier falle ich eben nicht in eine Welt, die mir komplett fremd ist. Zwar gibt es sofort ein Rätsel - das Foto von Ella Wiese und Ksens Verschwinden - aber erst nach etwa der Hälfte wird klar, dass die Antwort sich SF-Elementen bedient.

Und auch dann ist es eben nur diese eine, klar abgegrenzte Sache, die nicht unserer Lebenswirklichkeit entspricht, was sie deutlich leichter begreifbar macht als eine komplett neue Welt - ob eine Alternativwelt wie in DAVE oder weit entfernte Zukunft wie in Endstation.

 

Die Figuren hier essen keine Nährpaste und niemand hat einen uns unbekannten Virus. Sie haben die Smartphones, die auch wir auf dem Schreibtisch liegen haben und essen Chips und Salat, so wie wir. Da kaum Weltenbau notwendig ist, können wir gleich in die Action fallen und auch unerfahrene Leser:innen kommen gleich zurecht. So ein Buch hätte ich im Sommer 2020 gebraucht.

 

Aber auch erfahrene SF-Lesende kommen auf ihre Kosten. Der Roman hebt sich vom Rest durch die Vanille-Komponente (nicht-phantastische Welt von heute) ab, und gibt außerdem seinen Figuren angenehm viel Raum.

In der Tat war das, was mich am meisten interessiert hat, das Verhältnis zwischen Ksen und ihrem Bruder, dem Ich-Erzähler Sala. Die Nebenfigur David bringt es irgendwann nach zweihundert Seiten auf den Punkt und sagt offen, dass er ihr Verhältnis schräg findet  - was übrigens die Figur David interessanter macht und ihm mehr Gesicht verleiht.

Das interessiert mich im letzten Drittel dann sogar mehr als die eigentliche Auflösung. Das ist für mich die B-Story, alles andere ist "nur" eine actiongeladene A-Story.

 

Das ist übrigens eine Trilogie. Den Rest lese ich sicher auch. Teil 2 erscheint am 31. Mai 2022. Die Cover, Untertitel etc. stehen auch bereits fest.

Romanfiguren

Einige Figuren sind so schön echt und weit weg vom Klischee. Sala selber ist alles andere als der typische Mann und voller Zweifel und Unsicherheiten. In einigen Szenen verhält er sich einem Obdachlosen am Prater gegenüber so respektvoll und freundschaftlich, dass dies eigentlich schon alles über Sala aussagt, was man wissen muss, um bereit zu sein, ihm dreihundert Seiten lang zu folgen.

Auch in der Szene in der U-Bahn - der besten Szene des Romans, meiner Meinung nach - erfahren wir in der Innensicht viel über seine Ängste und Wünsche, das charakterisiert ihn neben dem ganzen Geschehen auch prächtig.

 

Ksens beste Freundin Antonia ist Informatikstudentin (Ksen übrigens auch), alleine das ist schon cool, aber Antonia ist auch so schön lösungsorientiert und scheut sich auch nicht, mal eben eine Flugreise zu buchen, um ihre verschwundene Freundin zu suchen.

 

Andere Figuren schrammen nur knapp am Klischee vorbei. David, ebenfalls Informatik-Student, ist dick, scheut die Sonne und ist Sala nicht sonderlich sympathisch. Ich verdrehe beim Lesen schon die Augen, da gewinnt er doch mehr Konturen, indem er sich mal traut, laut zu sagen, was er von der Beziehung der Geschwister Ksen und Sala hält.

  

Und der Böse? Ich hätte mehr gebraucht. Und anderes. Ich erfahre fast nichts über ihn. Der könnte aus einem durchschnittlichen Thriller von 20:15 Uhr entlaufen sein. Den habe ich nicht gebraucht. Klar, für die A-Story ist er existenziell, aber er hat mich nicht interessiert. Seine Motivation wird am Ende zwar klar, aber das meiste erklärt sich für mich nur dadurch, dass er wohl ein Psychopath sein muss. Das kann ich akzeptieren, ist ja in anderen Thrillern auch so. Als Gedanke: Vielleicht wäre eine klarere Steigerung gut gewesen. Ein bisschen war das auch vorhanden, nur ging mir das gegen Ende in zu krassen Schritten.

 

Dafür sind einige Figuren, die nur sehr kurz auftauchen ziemlich toll. Die alte Frau in Ksens Wohnung, die etwas über Ella Wiese verschweigt. Der misstrauische Nachbar mit Hund. Einige Mitbewohner Ksens, schräg genug, um als echte Menschen durchzugehen und normal genug, dass wir alle gleich ein Bild im Kopf haben. Sogar der Hausmeister, mit dem sich Sala kurz unterhält, hat mich überzeugt.

 

Figuren sind für mich sehr wichtig. Daher werde ich die Prosa von Meike Eggers ab sofort genau verfolgen, ob SF oder nicht SF. Lieber wäre mir natürlich SF.

Sprache und Art des Erzählens

 Die Sprache ist angenehm. Es lässt sich auch eher schnell lesen, da keine ungewohnten Wendungen verwendet werden.

Die Dialoge sind sehr gut, Phrasen sind mir keine aufgefallen. 

Vor allem die Actionszenen sind sehr gut beschrieben. Die Szene in der U-Bahn (U8) gehört sogar zu den besten Szenen, die ich in 2021 überhaupt gelesen habe. Perfekte Waage zwischen Action und Innensicht des Ich-Erzählers. Die Frau kann schreiben.

Besondere Textstellen

Ich bin immer auf der Suche nach guten Details, so habe ich folgende Beschreibungen beispielsweise sehr genossen:

 

"Die unzähligen Menschen, die die Holztreppe jahrzehntelang rauf und runter gelaufen waren, hatten eine tiefe Rinne in die Stufen gefräst."

 

"Sie [die alte Nachbarin, Frau Markovic] hatte ihre Mundwinkel weit nach unten gezogen, als ob sie extra für mich einen einfarbigen Mini-Regenbogen formen wollte."

 

Buchaussage

 Die A-Story ist die Suche nach Ksen und das Rätsel um Ella Wiese.

Was für mich interessanter ist, ist die Entwicklung der Hauptfigur Sala und sein Verhältnis zu seiner Schwester Ksen. Warum hängt er so an ihr? Und warum hat sie ihm von ihren wichtigsten Projekten nichts erzählt?

Das hat mich persönlich ab dem letzten Drittel mehr interessiert, als mir langsam klar wurde, worum es bei der A-Story geht.

 

Meiner Meinung nach lautet die Prämisse der A-Story:

"Algorithmen schaden den Menschen mehr als sie ihnen nützen."

 

Und die der B-Story:

"Geschwister sollten zusammenhalten, auch wenn sie nicht einer Meinung sind".

 

Die Prämisse der A-Story habe ich schon ein wenig zu häufig so gelesen, die B-Story hingegen hat mich sehr gefesselt.

 

Gegen Ende wurden mir einige Meinung ein wenig zu klar - das wäre mir persönlich subtiler lieber gewesen. Nichtsdestotrotz ein toller Roman, der für mich vor allem aufgrund der Figuren lesenswert ist.

Rezeption

Bei amazon gibt es bisher nur Fünf-Sterne-Rezensionen, wenn auch insgesamt erst zehn. Ich werde wohl eine weitere hinzufügen.

 

Judith von Literatopia hat bereits eine Rezension verfasst. Sie benennt sowohl Stärken als auch Schwächen sehr deutlich, für sie fällt vor allem der Schluss sehr ab. Ich frage mich manchmal, ob ein reißerischer Showdown ein Must-Have ist. Ich hätte einen wesentlich ruhigeren, weniger krassen Showdown ebenfalls bevorzugt.

 

Bei der Leselust gibt es ebenfalls eine ausführliche Rezension. Die Besprechung ist nahezu komplett positiv, bis auf einige Hinweise zu nicht ganz passenden Dialogstellen und der Darstellung von Jugendsprache.

Wie bin ich zu dem Buch gekommen?

Es ist deutschsprachig und 2021 erschienen und außerdem von einer Frau geschrieben. Ich hatte mir vorgenommen, all jene Bücher, auf die das zutrifft, zumindest anzulesen.

Jene, die ich auch durchlese und gut finde, wollte ich außerdem rezensieren. Dieses gehört definitiv dazu.

Über die Autor:in

Bei twitter ist sie leider nicht, aber bei Facebook, und, vor allem bei Instagram. Ihr dort zu folgen ist vermutlich am sinnvollsten, weil sie da sehr aktiv ist. Aber auch bei Facebook steht sie in gutem Kontakt zu ihren Leser:innen, verlinkt Rezensionen etc..

Eine Autorinnenhomepage gibt es auch. 

Diversität

Ksen und Sala sind Flüchtlinge, was ich schon als angenehm divers empfinde. Außerdem mochte ich es, dass gleich zwei Frauen (na, eigentlich drei) als Informatikerinnen arbeiten bzw. Informatik studieren.

Harte Fakten

Titel Cybionic: Der unabwendbare Anfang 
geschrieben von Meike Eggers 
Verlag Polarise 
Erscheinungsjahr 2021 
Seitenzahl 394 
Original Twitter Tweet https://twitter.com/Rezensionsnerd1/status/1444197566443311104 

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